Der geistige und körperliche Missbrauch bei den Zeugen Jehovas

Therapeutin im Interview: «Praktisch jede meiner Patientinnen, die bei den Zeugen Jehovas aufwuchs, wurde missbraucht»

Anna Gunkel arbeitet als Physiotherapeutin und Fachberaterin Psycho-Traumatologie mit Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Darunter sind viele Sekten-Aussteiger – vor allem ehemalige Zeugen Jehovas. Ein Gespräch über Missbrauch innerhalb der Gemeinschaft und die psychologischen Folgen davon.

Frau Gunkel, bei posttraumatischen Belastungsstörungen kommen mir Kriegs-Veteranen in den Sinn, nicht unbedingt Sekten-Aussteiger. Wie kommt es, dass viele von ihnen davon betroffen sind?

Anna Gunkel: Ich treffe bei meiner Arbeit vor allem auf Menschen, die in einer Sekte aufgewachsen sind. Sie waren während ihrer ganzen Kindheit einem enormen Druck ausgesetzt. Gerade in Gemeinschaften mit Endzeitvorstellungen, wie bei den Zeugen Jehovas, ist die Situation problematisch. Diese Kinder haben kaum Kontakte zur Aussenwelt, weil sie als verdorben gilt. Alle Menschen ausserhalb der Gemeinschaft sind praktisch schon tot, weil sie das Ende der Welt nicht überleben werden. Eine höhere Bildung lohnt sich nicht, für Spielen bleibt kaum Zeit, eigene Entscheidungen sind nicht nötig, Persönlichkeitsentwicklung ist nicht gefragt. Ausserdem sind Misshandlungen weit verbreitet.

 

Welche Art von Misshandlungen?

Körperliche Gewalt als Erziehungsmassnahme kommt bei den Zeugen Jehovas oft vor. Ausserdem berichten viele meiner Patienten von sexuellen Übergriffen und Missbrauch, innerfamiliär oder seitens der Ältesten. Diese Vorfälle werden unter den Tisch gekehrt. Die Zeugen Jehovas haben eine eigene Gerichtsbarkeit. Um eine Anschuldigung zu beweisen, braucht es zwei Zeugen – zwei Zeugen bei einem sexuellen Übergriff, das ist unmöglich.

Wurden viele Ihrer Patienten Opfer von sexuellen Übergriffen?

Praktisch jede meiner Patientinnen, die bei den Zeugen Jehovas aufwuchs, wurde missbraucht. Ihnen wurde gesagt, dass sie selber schuld daran seien, wenn ihnen so etwas passiert. Oder sie wurden unter Druck gesetzt, sie würden in die Hölle kommen, wenn sie sich jemandem anvertrauen würden. Kommt doch mal ein Vorfall ans Licht, tut der Täter Busse und wird vielleicht für eine kurze Zeit ausgeschlossen. Um das Opfer kümmert sich niemand.

 

Warum erstatten die Opfer keine Anzeige?

Die Zeugen Jehovas leben völlig abgeschottet von der hiesigen Gesellschaft. Sie anerkennen weder weltliches Recht, noch wenden sie sich an weltliche Richter. Bis die Betroffenen aus der Gemeinschaft raus kommen, sind die Taten meist verjährt oder ohnehin nicht mehr beweisbar.

 

Warum passiert Missbrauch oft in geschlossenen Gesellschaften?

Da kann ich nur spekulieren: Die Täter fühlen sich in solchen besonders geschützt und sitzen in gewissen Machtpositionen. Die Übergriffe innerhalb der katholischen Kirche kamen auch erst Jahre später ans Licht.

 

Wer müsste eingreifen?

Der Staat müsste die Zeugen Jehovas besser überwachen. Es ist eine antidemokratische Sekte, die Kindern ihre Grundrechte verweigert. Ihnen wird das Recht auf Bildung, auf freie Meinungsäusserung und oftmals leider auch auf Unversehrtheit genommen. Die Zeugen Jehovas stimmen auch nicht ab, leisten keinen Militärdienst und beteiligen sich nicht am öffentlichen Leben.

 

Was passiert in der Psyche von Kindern, die unter solchen Umständen aufwachsen?

Viele von ihnen entwickeln eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, eine der posttraumatischen Belastungsstörung verwandte Krankheit, eine Art Überlebensstrategie. Um Erlebtes zu verdrängen, werden Wahrnehmungen getrennt abgespeichert.

 

Wie wirkt sich das aus?

Wenn das Opfer eines sexuellen Übergriffs beispielsweise beim Sitznachbar im Bus dasselbe Rasierwasser wie das des Täters riecht, ergreift es sofort die Flucht, weil es den Mann für den Täter hält. Dass er dies nicht ist, kann es in diesem Moment nicht erfassen, weil die Informationen nicht kombiniert werden.

 

Was passiert, wenn die Opfer den Zeugen Jehovas den Rücken zu kehren?

Dann beginnt erst die grosse Arbeit. Aussteiger müssen das ganze Leben ausserhalb der Gemeinschaft und sich selber ganz neu kennenlernen: Wer bin ich überhaupt und was will ich für ein Leben leben? Wie trifft man Entscheidungen und was fühle ich? Diese Entwicklungen werden komplett unterdrückt. Alles war schwarz-weiss.

 

Können solche Störungen geheilt werden?

Das ist ein sehr langer Prozess, aber nicht unmöglich. In der heutigen Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen ist man davon weg gekommen, die Patienten durch Reden ihr Leiden immer wieder durchleben zu lassen. Als Physiotherapeutin behandle vor allem auch körperliche Folgen der psychischen Störung.

 

Zum Beispiel?

Viele klagen über Kopfschmerzen. Oder wenn beispielsweise eine Bedrohung immer vom Sitznachbar rechts kam, ist die rechte Körperseite ständig verspannt. Oder Opfer, die bei bei Bestrafungen immer gefesselt wurden, und bis heute chronische Schmerzen in Hand- und Fussgelenken haben – als isolierte Körper-Erinnerung.

 

Wie viele ihrer Patienten sind Ex-Zeugen-Jehovas?

Mindestens ein Viertel. Gemessen an deren Verbreitung ist das eine enorm hohe Zahl, die man meines Erachtens nicht einfach so ignorieren kann.

Zunahme an Anfragen bei Sektenberatungsstelle Infosekta 

In ihrem Jahresbericht 2014 hielt die Sektenberatungsstelle Infosekta letzte Woche eine erneute Zunahme an Anfragen fest. Auskunft erbeten wurde vor allem zu den Gruppierungen Scientology, der in der Schweiz noch 800 bis 900 Mitglieder angehören, und die grosse Gemeinschaft der Zeugen Jehovas mit rund 19’000 Mitgliedern in der Schweiz. 

Die Zahl der erstmaligen Anfragen nahm um 21 Prozent zu. Infosekta verzeichnete 987 Erstkontakte. Dies entspricht einer Zunahme um 21 Prozent. Zusammen mit 1068 Folgekontakten (+14 Prozent) waren dies 2055 Beratungskontakte. 

In fast drei Viertel der Anfragen ging es um konkrete Gruppen. 32 Prozent der Ratsuchenden sorgten sich um Angehörige oder sonst nahestehende Personen, die in den Einflussbereich einer Sekte geraten waren. Zwei Prozent der Anrufe kamen von aktiven Mitgliedern einer Gruppierung, fünf Prozent von Ehemaligen. 

Die Scientologen und Zeugen Jehovas hätten bei allen Unterschieden gewisse Parallelen, schreibt die Beratungsstelle: Beide fokussierten auf einen künftigen idealen Zustand, beide wollten möglichst viele Menschen für ihre Doktrin gewinnen, beide missachteten die Bedürfnisse und Rechte von Kindern, und beide forderten von ihren Mitgliedern absoluten Gehorsam. (rar/sda)

Quelle: watson