„Der große Abfall?“ – Ein Glaubenskonflikt bei den Zeugen Jehovas

„Der große Abfall?“ – Ein Glaubenskonflikt bei den Zeugen Jehovas

Die Bedrückung

Es ist ein ungewohntes Frühstück an diesem Frühjahrstag im Jahr 1980 im Hauptquartier der Zeugen Jehovas in Brooklyn. Eine bedrückende Atmosphäre herrscht dort vor, wo man Fröhlichkeit und Freude erwartet, die dem christlichen Glauben und dem Bewusstsein, dem allein wahren Gott zu dienen, entspringen. Aber heute ist es hier anders. Einige Brüder sitzen mit versteinerten Mienen an ihrem Platz und schweigen, manche Schwestern können ihre Tränen nur mühsam unterdrücken und wiederum andere bringen diese Disziplin nicht auf und schluchzen ungehemmt und laut. Was ist es, das eine derartige Wirkung entwickeln konnte? Es ist eine schockierende Neuigkeit, die in der Bethelfamilie die Runde macht. Eine Gruppe von spanisch sprechenden Brüdern und Schwestern ist von der Leitung aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und aufgefordert worden, das Bethel, ihre geistige Heimat und ihr Zuhause, umgehend zu verlassen. Es ist vor allem die Härte der Maßnahme, die die Brüder und Schwestern schockiert. Eine Strafe, die für die Betroffenen ihren geistigen Tod, die Trennung von dem alleinig wahren Gott, dem sie ihrer Meinung nach treu gedient hatten, und den Verlust ihrer sozialen und wirtschaftlichen Existenz bedeutet. „Diese Menschen hatten der Organisation seit Jahrzehnten angehört und viele Jahre lang ganzherzig ihre gesamte Zeit für das hergegeben, was sie als Dienst für Gott ansahen, und das alles wurde in nur sechs Tagen, vom 21. Bis 26. April, einfach so weggewischt und sie wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.“[1] „Natürlich waren viele in der Bethelfamilie betroffen und weinten am Frühstückstisch, als sie hörten, was den spanischen Brüdern passiert war. Ich konnte sehen, wie sich meine Brust in Panik hob und senkte und hoffte, dass die anderen an meinem Tisch nicht bemerkten, dass ihr Tischältester kurz davor stand, auszuflippen. Wie konnte sie (die Leitung) nur so etwas tun?“[2] Diese Frage muss sich an jenem Tag nicht nur dem Augenzeugen Randall Watters gestellt haben, der mit diesen Worten seine persönlichen Empfindungen beschreibt, sondern auch den meisten anderen, die über die Hintergründe der Ausschlussaktion keine weitere Kenntnis hatten[3] und daher schockiert und fassungslos auf das Gehörte reagierten. Dutzende wurden auf diese Weise in den kommenden Monaten zum Verlassen der Bethelfamilie gezwungen, da sie offensichtlich „zu viel wussten“ berichtet Randall Watters. Viele verließen das Bethel in Brooklyn auch auf eigenen Wunsch, um einem möglichen Ausschluss zuvorzukommen. Aber welches Wissen kann es denn gewesen sein, dass so bedeutsam, so wichtig in den Augen der leitenden Körperschaft war, das eine Maßnahme von einer derartigen Tragweite rechtfertigen konnte?

Die Säuberung

Der Anlass, der die Aktion der leitenden Körperschaft ausgelöst hatte, war von einem Auftrag von ihr an Raymond Franz, einem ihrer Mitglieder und weiteren Mitarbeitern ausgegangen. Diese sollten unter dem Stichwort „Chronologie“ einen Beitrag für das Buch „Hilfe zum Verständnis der Bibel“ erarbeiten, womit sich auch Recherchen verbanden, die sich über Monate erstreckten. „Ein großer Teil dieser Zeit verging mit der Suche nach irgendeinem Beweis, einer Bestätigung in der Weltgeschichte für das Jahr 607 v. u. Z., das in unseren Berechnungen für das Jahr 1914 eine so zentrale Rolle spielte. … Wir fanden absolut nichts, was das Jahr 607 v. u. Z. bestätigt hätte.“[4] Mit dieser Erkenntnis war die Lehre der Zeugen Jehovas über die theokratische Bedeutung des Jahres 1914 gefährdet. Wenn sich diese Lehre nicht aufrechthalten ließ, stand sogar die Legitimität der Gesellschaft infrage. Diese geht davon aus, dass Jesus Christus sie nach seiner vermeintlichen Rückkehr im gleichen Jahr später zu seinem treuen und verständigen Sklaven ernannt hat. Eine schwierige Situation war entstanden, die sich noch dadurch verschlimmerte, dass sich die Erkenntnis der Recherchegruppe bei den Bethelmitarbeitern wie ein Lauffeuer verbreitete. Noch während des Jahres 1979 sprachen sich die archäologischen Informationen, die im Gegensatz zur Wachtturmlehre standen, in der spanisch sprechenden Versammlung herum, von wo aus sie zurück zu der leitenden Körperschaft gelangten. Die Wachtturmgesellschaft musste reagieren und tat dies auch umgehend; eingeleitet mit einer Bemerkung, die bei einer Sitzung der leitenden Körperschaft am 14. November 1979 fiel: Grant Suiter sagte, er wolle eine Angelegenheit zur Sprache bringen, die zu beträchtlichem Gerede geführt habe. Er habe gehört, dass einige Mitglieder der leitenden Körperschaft sowie Mitarbeiter der Schreibabteilung in ihren Vorträgen Ansichten vertreten hätten, die nicht mit den Lehren der Gesellschaft übereinstimmten, und dass führe zu Verunsicherungen. …Zum ersten Mal fiel in einer Sitzung der leitenden Körperschaft das Wort „Abtrünnigkeit“ berichtet Raymond Franz.

Nunmehr war dieser schwerwiegende Vorwurf ausgesprochen und ließ sich nicht mehr ignorieren. Aber konnte man deswegen schon von einem „großen Abfall“ sprechen? „Es wurde beschlossen, das Lehrkomitee … mit einer Untersuchung zu beauftragen. In einer späteren Sitzung berichteten dessen Mitglieder, sie hätten keine Beweise für die genannten Vorwürfe gefunden.“[5] Dennoch wollte man die Angelegenheit nicht einfach fallenlassen, sondern ihr weiter nachgehen. Das Dienstkomitee der Gesellschaft wurde eingeschaltet und war „fleißig damit beschäftigt, alle möglichen Indizien zusammenzutragen, um Raymond Franz auszuschließen, da man annahm, dass er und Edward Dunlop sich gegen die Organisation verschworen hätten“[6] stellt Randall Watters fest. Aber auch die Anstrengungen der Brüder vom Dienstkomitee waren nur von zweifelhaftem Erfolg gekrönt. Das von ihnen beigebrachte Beweismaterial „… bestand zur einen Hälfte aus haltlosen, völlig aus der Luft gegriffenen Gerüchten, und die andere hatte nur dann einen Wert, wenn man der Ansicht ist, eine Religionsorganisation habe das Recht, private Unterhaltungen über die Bibel im vertrauten Freundeskreis zu verbieten, falls diese nicht voll und ganz mit den Lehren der Organisation übereinstimmen.“[7] Wie es sich jedoch zeigte, sollte es zur Not auch ohne stichhaltige Beweise gehen. Schließlich ging es der Gesellschaft um etwas anderes, Größeres. Mit Raymond Franz und seinen Sympathisanten wollte sie diejenigen treffen und ausschließen, die sie als harten Kern und Anführer der inneren Kritik vermutete, die zum Schweigen gebracht werden sollte. Raymond Franz, der der leitenden Körperschaft seit neun Jahren angehörte, war ihr im Laufe der Jahre ohnehin zunehmend unbequem geworden.[8] Im Zuge dieser “geistigen Säuberungswelle“ wurden neben den vermutlichen Rädelsführern viele andere beschuldigt und oft nur auf der Grundlage von Zweifeln oder Fragen ausgeschlossen. Eingaben gegen ausgesprochene Ausschlüsse blieben in der Regel erfolglos. Die Betroffenen wurden aufgefordert, ihre Habseligkeiten zu packen und ihr Zuhause, das Bethel, innerhalb von wenigen Stunden unter Stillschweigen zu verlassen. Die Wachtturmführung reagierte schnell und mit kompromissloser Härte. Mit diesem harschen Vorgehen und ihrer Unbeugsamkeit hat sie jedoch ein anderes Verhalten gezeigt, als man von einer christlichen Organisation allgemein erwartet.

Die stets betonte brüderliche Liebe der an der Aktion beteiligten Angehörigen der leitenden Körperschaft hatte sich damit als Trugbild erwiesen. Als bloße Wunschvorstellung vieler Zeugen, die davon überzeugt waren, dass bei den Angehörigen dieses Gremiums der Geist und die Liebe Gottes vorherrschen würden. Eine vorgeblich christliche Gemeinschaft hatte sich letztendlich als autoritäre Organisation entpuppt: „Was im Frühjahr 1980 geschah, bewirkte nur, dass der Samthandschuh der Milde ausgezogen und die unbeugsame Härte darunter freigelegt wurde.“[9] „Wie man eine solche Handlungsweise noch als christlich ansehen kann, weiß ich nicht“, resümiert Raymond Franz[10] und damit stellt sich die Frage, wie die Wachtturmgesellschaft ihr rigides Vorgehen rechtfertigt.

 

Der Machtanspruch

Angesichts der in der Gemeinschaft im Bethel Brooklyn entstandenen Unruhe sah sich die Gesellschaft gezwungen, ihre Handlungsweise zu legitimieren und ihre Befugnis zum Erlass von Regeln und Weisungen zu begründen. Lloyd Barry, ein Mitglied der leitenden Körperschaft, übernahm diese Aufgabe und sagte am 29. Mai zu den Ältesten der Bethelfamilie: “Wenn wir über das Gesetz reden, sprechen wir über Organisation. Es ist nötig, dass wir mit unserem ganzen Herzen nach diesem Gesetz suchen. Jehova gibt keinem Einzelnen Einsicht. Wir brauchen einen Führer und das ist der treue und verständige Sklave. Wir sollten uns nicht in Cliquen zusammenfinden, um Ansichten zu diskutieren, die im Gegensatz zu denen des treuen und verständigen Sklaven stehen. Wir müssen die Quelle unserer Instruktionen (an) erkennen. Wir müssen wie ein Esel sein, bescheiden, und müssen an der Krippe bleiben und dann werden wir nicht vergiftet.“[11] Eine für die Gesellschaft typische, allerdings in christlicher Sicht nicht nachvollziehbare Argumentationsweise. Lloyd Berry setzt die Organisation in unzulässiger Weise mit dem göttlichen Gesetz gleich und gesteht der Wachtturmgesellschaft sogar zu, als Vertreterin dieses Gesetzes und damit mit göttlicher Autorität zu handeln und neue Gesetze zu erlassen, die anzunehmen sind und nicht kritisch diskutiert werden dürfen, da man sonst Gefahr läuft, geistig vergiftet zu werden. Von einer biblisch begründeten Legitimation ist keine Rede. Die Ausführungen von Lloyd Berry lassen sich nur als Anspruch, als Rechtfertigung, sogar als Prätention, aber keinesfalls als nachvollziehbare christliche Begründung verstehen. Die Gesellschaft verlangt von ihren Zeugen absolute Unterordnung und will ihnen suggerieren, dass sie sich im Falle einer Zuwiderhandlung nur selbst schaden. Sie will nicht überzeugen, sondern droht damit, dass, wer nicht gehorsam ist, mit harten Konsequenzen rechnen muss. In die gleiche Kerbe schlägt an diesem Tag auch Albert Schroeder, ebenfalls ein Mitglied der leitenden Körperschaft. Auch er spricht zu den Ältesten im Bethel und unterstreicht den Autoritätsanspruch der Wachtturmführung mit den Worten: „Wir dienen nicht nur Jehova Gott, sondern unterstehen auch unserer „Mutter“. Unsere Mutter (die Wachtturmorganisation, Anm. der Verfasser) hat das Recht, Regeln und Vorschriften für uns zu machen. … Wenn einige glauben, sie können sich diesen Regeln und Vorschriften, die jetzt gelten, nicht unterwerfen, sollten sie gehen und nicht an dem weiteren fortschreitenden Werk teilhaben.“[12] Die Botschaft beider Leitungsmitglieder ist eindeutig. Die Führung der Organisation beansprucht einen uneingeschränkten und bedingungslosen Gehorsam. Einen Gehorsam, der selbst bis in den Bereich des persönlichen Glaubens hineinreicht, indem er keinen Zweifel an den Glaubenssätzen und Auslegungen der leitenden Körperschaft erlaubt. Die individuelle christliche Freiheit, sollte sie in der Organisation der Zeugen Jehovas jemals bestanden haben, wird auf diese Weise aus- und das Denken der Zeugengemeinschaft gleichgeschaltet. Damit begibt sich die Wachtturmgesellschaft in einen nicht überbrückbaren Gegensatz zu der christlichen Lehre, die der Freiheit einen hohen Stellenwert beimisst: „So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen.“[13] Die Organisation kann sich und ihren Anspruch nicht begründen, ohne sich in den Gegensatz zur Bibel zu begeben. Sie zieht es daher vor, sich mit den Mitteln der Macht gegen ihre inneren Kritiker zu verteidigen. Die Wachtturmgesellschaft vermeidet mit ihrer Strategie jegliche inhaltliche Auseinandersetzung und kann daher im Extremfall selbst die gröbsten Falschinterpretationen bei ihren Gläubigen mit ihrem Herrschaftsanspruch durchsetzen. “Wenn Irrlehre gezwungen ist, sich im Kampf mit Wahrheit zu messen, dann findet sie ihre bevorzugte Waffe und auch ihre letzte Zuflucht in Macht. Allzu oft hat die beanspruchte Macht keine größere Daseinsberechtigung als die Irrlehre selbst.“[14]

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[1] Raymond Franz: Der Gewissenskonflikt. Menschen gehorchen oder Gott treu bleiben. S. 288
[2] Randall Watters: My Story part 2: Trouble At Bethel, the Bethel Chronicles, https://www.freeminds.org/bethel/bethel.htm Übersetzung durch den Verfasser, im weiteren als Randall Watters, My Story, bezeichnet
[3] “Angehörige der Bethelfamilie wurden grundsätzlich im Dunkel gehalten über die ganze Angelegenheit und sind es bis heute geblieben. Sie glauben ganz einfach den ihnen angebotenen Erklärungen der leitenden Körperschaft, dass es eine Verschwörung gegen Jehovas Organisation gegeben habe und diese Männer und Frauen Abtrünnige, „geistige Hurer“, „geistig krank“ und „korrupt“ seien.“ Ebda
[4] Ebda. Raymond Franz: Der Gewissenskonflikt. Menschen gehorchen oder Gott treu bleiben. Ein Zeuge Jehovas berichtet. S. 35, fortan als Raymond Franz: Der Gewissenskonflikt bezeichnet
[5] Ebda. S. 264
[6] Randall Watters: My Story
[7] Raymond Franz: Der Gewissenskonflikt. S. 299
[8] “Eines Tags kam Dan Sydlik (leitende Körperschaft) heraus zu der Bethelfamilie und sagte, dass es angebracht wäre, am Tisch den gleichen Anzug wie bei einer Versammlung zu tragen (wenigstens einen Schlips). … Der innere Widerstand dagegen wurde von Raymond Franz angeführt, der daraufhin während der ganzen nächsten Woche mit einem alten weißen TShirt mit dem Aufdruck „Wo zum Teufel ist McCook, Nebraska?“ zum Frühstück erschien, ohne gemaßregelt zu werden.“ Randall Watters: My Story
[9] Raymond Franz: Der Gewissenskonflikt. S. 318
[10] Ebda. S. 287
[11] Randall Watters, My Story
[12] Ebda.
[13] Luther Bibel 1912, Galater 5:1
[14] Raymond Franz: Auf der Suche nach christlicher Freiheit, S. 19