5. Kapitel: Tradition und Gesetzesdenken

5 Tradition und Gesetzesdenken *

5.1 Gesetzestreue zu Gott oder zu pharisäerhaftem Regelwerk?
5.1.1 Jesu Warnung vor „Satzungen von Menschen“ die Gottes Gebote ungültig werden lassen! Hauptthema der leitenden Körperschaft: Warum entziehen wir wem die Gemeinschaft?

„Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt … was sie lehren, sind Satzungen von Menschen“ (Matthäus 15:6, 9, Einheitsübersetzung).

Die meisten Zeugen Jehovas stellen sich die Sitzungen der leitenden Körperschaft so vor, als setzten sich dort Männer zusammen die viel Zeit auf die eingehende Erforschung des Wortes Gottes verwenden. Sie meinen, diese würden voll Demut beratschlagen, wie sie ihren Brüdern zu einem besseren Verständnis der Bibel verhelfen können, auf welche Weise man ihnen hilfreich zur Seite stehen könnte, damit sie im Glauben und in der Liebe wachsen, jenen beiden Eigenschaften, die der Quell wahren biblischen Handelns sind. Die Heilige Schrift, so setzt man voraus, ist bei allen Beratungen die einzig maßgebende, endgültige und höchste Autorität.

Wie bereits beschrieben, wußten die Mitglieder der leitenden Körperschaft besser als sonst irgend jemand, daß die Darstellung in den Wachtturm ­Artikeln über das Verhältnis der Gesellschaft zur leitenden Körperschaft nicht der Wirklichkeit entsprach. Und ganz genauso wissen sie auch besser als jeder andere, daß das oben gezeichnete Bild erheblich von der Realität abweicht.[1]

Beim Blättern in den Sitzungsprotokollen stellt man fest, daß es in zahllosen dieser Sitzungen immer wieder und vor allem hauptsächlich um zeitrau­bende Diskussionen über Themen ging, die letzten Endes zu der einen Frage führten: „Soll es dafür einen Gemeinschaftsentzug geben oder nicht?“ . Mir kam die leitende Körperschaft wie eine Gruppe vor, die mit dem Rücken“ zur Wand stand und dauernd Bälle auffangen und zurückwerfen sollte, die man ihr ständig von allen Seiten her zuwarf. Die Bälle kamen dabei so zahlreich, daß man kaum verschnaufen konnte, um etwas anderes zu tun. Es drängte sich sogar das Gefühl auf, daß mit der Bekanntgabe jeder Entscheidung nur neue Fragen aufgeworfen wurden, die uns von anderen Seiten zuflogen, so daß fast keine Zeit blieb für schöpferische Gedanken, für Studium, Gespräche und eigene Initiativen.

Im Laufe der Jahre habe ich unendlich vielen Sitzungen beigewohnt, in denen es um Fragen ging, die für die Betroffenen schwerwiegende Folgen haben würden und in denen praktisch keiner der Teilnehmer die Bibel zur [97] Hand nahm oder sich auch nur auf sie bezog. Dafür gab es eine Reihe von Gründen.

5.1.2 Die an der Spitze sind viel zu beschäftigt, um selbst die Bibel zu studieren!

Viele Mitglieder der leitenden Körperschaft gaben zu, sie hätten mit allem möglichen so viel zu tun, daß wenig Zeit für Bibelstudium übrig blieb. Die Zeit, die sie im Durchschnitt darauf verwendeten, so kann man ohne Übertreibung sagen, war nicht mehr, als viele Zeugen aus dem „Fußvolk“ auch darauf verwendeten, zum Teil sogar noch weniger. In dieser Beziehung fielen dabei besonders einige Mitglieder aus dem Verlagskomitee auf (zu denen die Direktoren und leitenden Beamten der pennsylvanischen Korpo­ration zählten), denn auf ihren Schreibtischen türmten sich Berge von Akten, mit deren Bearbeitung sie anscheinend keinen anderen beauftragen wollten oder konnten, der ihnen dann die Ergebnisse oder Empfehlungen zur Entscheidung vorgelegt hätte.

Die wenigen Male, bei denen auf der Tagesordnung rein biblische Themen standen, handelte es sich im allgemeinen um einen oder mehrere Wacht­turm-Artikel, die ein einzelner geschrieben hatte und die keine einhellige Zustimmung fanden. Mit schöner Regelmäßigkeit mußten dann Milton Henschel, Grant Suiter oder ein anderes Mitglied dieses Komitees sagen:

„Ich konnte mich damit nur ganz kurz befassen, weil ich so viel zu tun hatte.“ Die Arbeitsbelastung war ganz sicher nicht vorgetäuscht; man fragte sich aber, wie sie dann guten Gewissens über etwas mit abstimmen konnten, womit sie sich nicht ausreichend beschäftigt hatten, um zu ermitteln, was die Bibel dazu sagt. War es erst veröffentlicht, galt es Millionen Menschen als“ Wahrheit“. Gibt es überhaupt Geschäftsdinge, die ebenso wichtig sein können?

5.1.3 Verwischtes Teilverständnis ohne den Gesamtzusammenhang zu erfassen, am Beispiel des „Festes der Einsammlungen“

Diese Brüder standen jedoch keineswegs allein da, denn wahrend der Diskussionen merkte man deutlich, daß fast keiner mehr getan hatte, als die Texte bloß oberflächlich durchzulesen. Oft ging es um ein Thema, das der Schreiber selbst gewählt hatte, ohne dies mit der leitenden Körperschaft vorher abzustimmen, selbst wenn die darin entwickelten Gedanken ein „neues“ Verständnis der Bibel darstellten. Vielfach hatte der Verfasser seine Argumentation fix und fertig ausgearbeitet und alles bereits in eine endgül­tige Form gebracht, ohne mit irgend jemand darüber gesprochen zu haben, ohne seine Gedankengänge überhaupt zusammen mit einem einzigen Menschen auf ihre Richtigkeit hin geprüft zu haben.[2] Die Argumentations­ketten waren oft so kompliziert und umständlich, daß man nach bloß oberflächlichem Durchlesen nie und nimmer über ihre Richtigkeit ent­scheiden oder erkennen konnte, ob sie biblisch korrekt waren, oder ob sie bloße Gehirnakrobatik darstellten, bei der mit Schrift texten herumjongliert wurde, bis ihnen eine Aussage abgerungen werden konnte, die gar nicht in ihnen steckte. Diejenigen, die den Text einfach nur gelesen hatten, stimmten [98] gewöhnlich für ihn; ernsthafte Einwände konnte es eigentlich nur von denen geben, die eigene Nachforschungen angestellt hatten.

Als daher ein Artikel zur Diskussion stand, in dem das „Fest der Einsamm­lung“ (das gemäß der Bibel am Ende der Erntezeit begangen wurde) so dargestellt war, daß es ein Ereignis in der Geschichte der Zeugen zu Beginn ihres geistigen Erntewerks bedeutete, gab es genügend Stimmen für dessen Annahme.[3] Darauf sagte der damalige Koordinator des Schreibkomitees: „Also gut, wenn ihr das so wollt, dann gebe ich es rüber zur Druckerei, damit es veröffentlicht wird. Das soll aber nicht heißen, daß ich es glaube. Das beweist nur wieder einmal mehr, daß der Wachtturm nicht unfehlbar ist.“ Der zweite Grund, weshalb richtige biblische Diskussionen nicht zustande kamen, ergibt sich meines Erachtens aus dem ersten von allein. Er besteht darin, daß die meisten in der leitenden Körperschaft sich in Wahrheit gar nicht so gut in der Bibel auskannten. Ihr Vielbeschäftigtsein war ja nichts Neues. Mir ging es selber so, daß ich für echtes, gründliches Bibelstudium bis 1965 keine Zeit fand, weil mich die Tretmühle der tausend kleinen Dinge so mit Beschlag belegte. Ich sehe aber noch tiefer liegende Ursachen. Ich glaube, allgemein herrschte die Ansicht vor, ein solches Studieren und Nachforschen sei im Grunde gar nicht so wichtig. Die Grundsätze und Lehren der Organisation seien für sich allein schon eine verläßliche Hilfe; schließlich waren sie im Verlauf von Jahrzehnten erarbeitet worden. Ent­sprach also ein Antrag in der leitenden Körperschaft der traditionellen Lehre und den Grundsätzen der Organisation hinreichend, dann hatte er schon seine Richtigkeit.

5.2 Das umfangreiche Regelwerk der Gesellschaft um von oben her jeden Entscheid zu beeinflussen
5.2.1 Die Handbücher von Menschen ersetzen Nachforschen in der Bibel! Standardgerichtsverfahren mit unsinnigen und schwerwiegenden Entscheiden.

Das läßt sich an Hand von Fakten belegen. Es kam vor, daß ein langes Hin und Her in einer Gemeinschaftsentzugsfrage ganz schnell zum Abschluß kam, weil ein Teilnehmer etwas darüber im Organisations-Buch der Gesellschaft oder, was häufiger der Fall war, in dem Buch Aid to Answering Branch Office Correspondence (Hilfe zur Beantwortung von Anfragen an das Zweigbüro) gefunden hatte, einem internen Kompendium von Grund­satzentscheidungen, das in alphabetischer Anordnung eine Vielzahl von. Themen aufführte: Berufstätigkeit, Ehe, Scheidung, Politik, Militärangele­genheiten, Gewerkschaften, Blut und viele weitere. Sobald eine solche Fundstelle nachgewiesen worden war, schien für die meisten der Fall erledigt zu sein, auch wenn in dem Text überhaupt kein biblischer Beleg für die Entscheidung angeführt war. Sie stimmten dann meist ohne Zögern für jeden Antrag, der sich mit dem, was bereits gedruckt vorlag, in Einklang befand. Ich habe das mehrere Male mitverfolgt und war jedesmal beein­druckt, wie die Diskussion so schlagartig umschwenkte und zum Abschluß kam, weil eine grundsätzliche Aussage zum Thema gedruckt vorlag.

Der letzte Grund, weshalb die Bibel bei den Sitzungen so selten eine Rolle spielte, ist, daß es in einer großen Zahl von Fällen um Dinge ging, zu denen die Bibel nichts sagt. [99]

So sollte beispielsweise entschieden werden, ob die Injektion eines Serums genauso angesehen werden müsse wie eine Bluttransfusion, oder ob die Aufnahme von Blutplättchen in den Körper ebenso abzulehnen sei wie die von Konserven, die rote Blutkörperchen enthielten. Oder die Diskussion drehte sich um die Frage, ob eine Ehefrau, die einmal untreu geworden war, dies ihrem Ehemann bekennen müsse (auch wenn man wußte, daß er sehr gewalttätig war), oder ob ihre Reue sonst als ungültig anzusehen sei, was für sie den Gemeinschaftsentzug bedeutet hätte. Wo steht darüber etwas in der Bibel?

Folgender Einzelfall lag zur Entscheidung auf dem Tisch: Ein Zeuge Jehovas, der Lieferfahrer bei Coca Cola war, hatte eine Lieferroute mit vielen Einzelabnehmern auf einem großen Militärstützpunkt zu bedienen. Die Frage war: Konnte er dieser Arbeit nachgehen und dabei seinen guten Ruf in der Versammlung behalten, oder mußte ihm die Gemeinschaft entzogen werden? (Entscheidend war, daß es um Anlagen und Angehörige des Militärs ging.)

Wieder stellte sich die Frage, welche Bibelstellen etwas darüber sagten, und zwar in einer klaren und einsichtigen Weise, ohne daß es umständlicher Argumentationen und Interpretationen bedurfte. Vorgetragen wurden keine, und dennoch wurde entschieden, diese Art Arbeit könne nicht akzeptiert werden und der Mann müsse sich um eine andere Lieferroute bemühen, wenn er einen untadeligen Ruf in der Versammlung behalten wolle. In einem ähnlich gelagerten Fall spielte ein Zeuge in einer Combo im Offiziersclub auf einem Militärstützpunkt. Auch hier wurde mit Mehrheit befunden, das könne nicht akzeptiert werden. Da in der Bibel nichts darüber stand, stammte die Antwort allein aus menschlichem Denken.

5.2.2 Standardschrifttexte, welche über Leben und Tod, über Gemeinschaftsausschluß gesetzt werden. Gewissensentscheide entgegen der Meinung der Mehrheit.

Wenn bei Diskussionen dieser Art doch einmal die Bibel bemüht wurde, so verwiesen diejenigen, die die Handlungsweise verurteilten, auf seinen sehr allgemein gefaßten Schrifttext. wie beispielsweise den aus Johannes, Kapi­tel 15, Vers 19: „Ihr seid kein Teil der Welt.“ Auf diesen Text konnte man immer zurückgreifen, wenn man persönlich etwas gegen die gerade zur Debatte stehende Handlungsweise hatte und einem sonst nichts einfiel; man konnte ihn dehnen, bis er auf den gerade vorliegenden Fall paßte, egal wie die Umstände sonst waren. Daß dieser Text vor dem Hintergrund der ganzen übrigen Bibel gesehen werden mußte, um die klare Bedeutung einer so weitgefaßten Textstelle einzugrenzen und zu ermitteln, worauf sie sich denn genau bezog, das hielt man offenbar meist für unnötig oder unwichtig. Einen wichtigen Faktor bei den Entscheidungen der leitenden Körperschaft bildete die Zweidrittel- Regelung. Manchmal zeitigte sie geradezu absonder­liche Folgen.

Ein Antrag war erst angenommen, wenn zwei Drittel aller aktiven Mitglie­der der leitenden Körperschaft dafür stimmten. Ich war ganz froh darüber, daß man damit die Gelegenheit zur Stimmenthaltung bekam, ohne gleich alles zu blockieren. Bei weniger wichtigen Fragen schloß ich mich im allgemeinen dem Mehrheitsvotum an, selbst wenn ich nicht ganz derselben[100] Meinung war. Ging es aber um Angelegenheiten, die für mich eine Gewis­sensfrage waren, so fand ich mich oft genug in der Minderheit, zwar selten ganz allein, doch oft nur mit einem, zwei oder drei weiteren im Bunde, die ebenfalls nicht für den Antrag stimmen konnten, weil er sie in Konflikt mit ihrem Gewissen gebracht hätte.[4] In den ersten beiden Jahren nach Inkraft­treten der großen Veränderung in der Machtstruktur (am 1. Januar 1976) kam das nicht so oft vor, doch in den letzten beiden Jahren meiner Mitarbeit in dem Gremium mußte ich mich häufiger der Stimme enthalten, weil jetzt oft eine harte Linie verfolgt wurde.

Was geschah aber, wenn das Kollegium in einer Frage in zwei Lager gespalten war? So selten, wie manche vielleicht annehmen, war das bei weitem nicht.

Angenommen, zur Diskussion standen Verhaltensweisen, die in der Ver­gangenheit irgendwann einmal von der Gesellschaft als Übertretungen eingestuft worden waren, die mit einem Gemeinschaftsentzug zu ahnden seien. Vielleicht ließ sich jemand Blutbestandteile spritzen, um eine tödli­che Krankheit zu bekämpfen; oder es handelte sich um eine Frau, deren Mann kein Zeuge war und der im Militärdienst stand, die auf dem Stützpunkt ihres Mannes im (vom Militär betriebenen) Supermarkt arbei­tete.

Bei solchen Themen war sich die leitende Körperschaft des öfteren uneinig, manchmal waren beide Seiten gerade gleich stark. Oder es gab eine Mehrheit, die dagegen war, diese Verhaltensweise weiter als Übertretung einzustufen. Dann konnte wegen der Zweidrittel-Regelung folgendes ein­treten:

5.2.3 Pattsituation zufolge 2/3-Mehrheitsstimmen Zwang

Waren von vierzehn Anwesenden neun für eine Streichung und nur fünf wollten die alte Festlegung beibehalten, so genügte diese Mehrheit nicht, denn sie war zwar eindeutig, aber eben keine Zweidrittel-Mehrheit. (Selbst wenn zehn der Anwesenden dafür gewesen wären, hätte es nicht gereicht, denn das wäre zwar eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden gewesen,. doch nicht der Gesamtzahl der aktiven Mitglieder, wie die Regelung es“ verlangte, und deren gab es lange Zeit hindurch 17 oder 18.) Hätte einer der neun, die für die Streichung waren, einen Antrag gestellt, so wäre er nicht durchgekommen, da zur Annahme zwölf Stimmen nötig waren. Hätte jemand von den anderen fünf den Antrag gestellt, dies weiterhin als Gemeinschaftsentzugsdelikt anzusehen, so wäre er selbstverständlich auch nicht angenommen worden. Doch daß der zweite Antrag nicht angenom­men worden wäre, hätte nicht zur Folge gehabt, daß diese Verhaltensweise nun nicht mehr zu einem Gemeinschaftsentzug geführt hätte. Und weshalb nicht? Weil alles nach dem Grundsatz ablief: Änderungen finden nur statt, wenn ein Antrag angenommen wird. Bei einem der ersten Male, als eine solche Situation aufgetaucht war, hatte Milton Henschel die Ansicht [101] geäußert, wenn es zu keiner Zweidrittelmehrheit komme, dann solle es beim „status quo“ bleiben, der bisherige Zustand also weiter gelten. Ein Seitenwechsel eines der Teilnehmer war höchst ungewöhnlich, und so blieb es bei dem Patt.

Das bedeutete, daß derjenige Zeuge, der so handelte oder der diese Arbeits­stelle hatte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden mußte, obwohl eine Mehrheit der leitenden Körperschaft klar der Auffassung war, daß dies nicht geschehen sollte!

Wenn eine stattliche Minderheit oder sogar eine Mehrheit meinte, etwas solle nicht länger mit dem Gemeinschaftsentzug bestraft werden, habe ich mehr als einmal die Auffassung geäußert, daß unsere Haltung unvernünftig, im Grunde sogar unbegreiflich war. Wie konnten wir alles so weiterlaufen lassen wie vorher, so daß Menschen die Gemeinschaft entzogen wurde für Delikte, bei denen selbst im Kreis der leitenden Körperschaft mehrere (manchmal sogar die Mehrheit) dachten, hier sei eine so schwere Strafe nicht erforderlich? Was würden die Brüder und Schwestern denken, wenn sie das wüßten und ihnen dennoch die Gemeinschaft entzogen würde?[5]
Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Angenommen, in einer Versamm­lung verhandeln fünf Älteste als „Rechtskomitee“ einen Fall, und drei von den fünf meinen, die Handlungsweise des Betroffenen verdiene keinen Gemeinschaftsentzug. Ist dann ihr Standpunkt belanglos, weil sie nur eine Dreifünftel- und keine Zweidrittelmehrheit bilden?[6] In einem solchen Fall sollte doch bestimmt kein Gemeinschaftsentzug ausgesprochen werden. Wie konnten wir dann zulassen, daß an einer alten Gemeinschaftsentzugs­regelung festgehalten wurde, nur weil eine Verfahrensregel für Abstimmun­gen das so verlangte, wenn doch die Mehrzahl der Mitglieder des Gremiums anderer Auffassung war? Sollten nicht wenigstens in Gemeinschaftsent­zugsfragen alte Regelungen außer Kraft gesetzt werden, sobald es eine deutliche Minderheit (und erst recht eine, wenn auch knappe, Mehrheit) gab, die der Meinung war, es gebe keine hinreichende Begründung für diese Maßnahme?

5.2.4 Festhalten an alten Regelungen steht über schriftgetreuem Verhalten und Barmherzigkeit

Niemand antwortete mir auf diese Fragen. Stattdessen wurde weiterhin Fall um Fall nach der bisherigen Methode abgehandelt, so als sei das der einzig richtige und normale Weg. Wie sich diese Entscheidungen auf das Leben der Betroffenen auswirkten, schien auf die Verantwortlichen irgendwie nicht genug Eindruck zu machen, um sie von ihrer Routine abweichen zulassen. Irgendwann hatte die Organisation einmal eine Grundsatzentscheidung getroffen (die häufig genug dem Denken eines einzigen Mannes entsprungen war, der viel zu oft von den Lebensumständen, um die es ging, hoffnungslos wenig wußte), und diese Grundsatzentscheidung war geltendes Recht [102] geworden. Man hatte eine feste Regel, und die galt, solange sie nicht mit Zweidrittelmehrheit umgestoßen wurde.

Zu welch merkwürdigen Folgen diese Verfahrensweise führte, läßt sich wahrscheinlich am besten in der Frage des Zivildienstes zeigen. Mit Zivildienst ist hier der Ersatzdienst gemeint, den viele aufgeklärte Regie­rungen denen ermöglichen, die aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigern.

Die offizielle Haltung der Watch Tower Society dazu, entstanden im Zweiten Weltkrieg, lautet, daß ein Zeuge Jehovas, der Zivildienst leistet, Kompro­misse gemacht und damit seine Lauterkeit gegenüber Gott gebrochen hat. Dahinter steht der Gedanke, daß dieser Dienst ein Ersatz ist und deshalb die Stelle des Dienstes einnimmt, für den er Ersatz ist, womit er – so lautet anscheinend die Schlußfolgerung – die gleiche Bedeutung erlangt wie dieser. Da er anstelle des Kriegsdienstes ausgeführt wird, und da zum Kriegsdienst (zumindest potentiell) das Vergießen von Blut gehört, lädt jeder, der den Ersatzdienst durchführt, eine Blutschuld auf sich. Diese bemerkenswerte Richtlinie entstand, bevor es eine leitende Körperschaft gab; sie wurde offenbar von Fred Franz und Nathan Knorr in jenen Tagen beschlossen, als alle grundsätzlichen Entscheidungen noch von ihnen allein gefällt wurden. Im Laufe der Jahre sind daraufhin buchstäblich Tausende von Zeugen Jehovas in vielen Ländern der Erde gehorsam lieber ins Gefängnis gegangen, als Zivildienst zu leisten. Selbst heute sitzen einige aus diesem Grund im Gefängnis. Wer dieser Richtlinie der Gesellschaft nicht folgt, wird automa­tisch als jemand angesehen, „der die Gemeinschaft verlassen hat“, und so behandelt, als sei er ausgeschlossen.

5.2.5 Änderung in der Zivildienstfrage scheitert an einer blockierenden Minderheit

Ein Zeuge Jehovas aus Belgien zog in einem Brief vom November 1977 die Schlüssigkeit dieser Argumentation in Zweifel. Daraufhin kam die Angele­genheit vor die leitende Körperschaft. Am 28. Januar 1978 erschien sie erstmals auf der Tagesordnung, am 1. März noch einmal, und schließlich wieder am 26. September, 11. Oktober, 18. Oktober und 15. November. Eine weltweite Befragung wurde durchgeführt, auf die über 90 Zweigbüros antworteten. Recht viele gaben an, die Zeugen Jehovas vor Ort hätten Mühe zu erkennen, daß es für diese Position überhaupt eine biblische Basis gebe. Interessant ist, was dann in der leitenden Körperschaft geschah.

In der Sitzung vom 11. Oktober 1978 stimmten von den dreizehn Anwesen­den neun für eine Änderung der bisher üblichen Praxis. Die Entscheidung für oder gegen den Zivildienst sollte danach jeder Betroffene selbst fällen, gemäß seinem Gewissen. Vier stimmten dagegen. Die Folge war, daß sich nichts änderte, da es insgesamt sechzehn Mitglieder der leitenden Körper­schaft gab und neun keine Zweidrittelmehrheit bildeten.

Am 15. November waren alle sechzehn anwesend und elf stimmten für eine Änderung, so daß ein Zeuge Jehovas, der die Ableistung des Zivildienstes mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, nicht automatisch als untreu gegen Gott eingestuft wurde, so als habe er die Versammlung verlassen. Das war eine Zweidrittelmehrheit. Kam es nun zu der Änderung? [103]

Nein, denn nach einer kurzen Sitzungsunterbrechung gab einer bekannt, er habe es sich anders überlegt. Damit war die Zweidrittelmehrheit hinfällig. Bei der dann folgenden Abstimmung waren fünfzehn Mitglieder anwesend, von denen neun für eine Änderung stimmten, fünf dagegen, und einer sich enthielt.[7]

So blieb diese Richtlinie in Kraft, obwohl sich in allen Abstimmungen eine deutliche Mehrheit der leitenden Körperschaft für deren Abschaffung ausgesprochen hatte. Das Ergebnis war, daß von jungen Männern unter den Zeugen Jehovas weiterhin erwartet wurde, lieber ins Gefängnis zu gehen, als Zivildienst zu leisten, auch wenn sie diesen mit ihrem Gewissen hätten vereinbaren können. So unglaublich es klingen mag, aber das war die Entscheidung, und die meisten in der leitenden Körperschaft schien das nicht weiter zu beunruhigen. Schließlich hatte man sich einfach an geltende Regeln gehalten.

5.3 Warum läßt die Bibel dem Einzelnen Gewissensfreiheit in vielerlei Fragen?
5.3.1 Allzuoft Gemeinschaftsentzug für Dinge, welche die Bibel nicht klar als Sünde definiert!

In all diesen Streitfällen ging es um einen Gemeinschaftsentzug für Dinge, die die Bibel nicht eindeutig als Sünde bezeichnet. Es handelte sich einzig um organisationsinterne Richtlinien, die für alle verbindlich waren, sobald sie erst einmal gedruckt vorlagen. Die gesamte Gemeinschaft mußte sich dann daran halten, und die Folgen mußte jeder selbst tragen. Wäre das nicht ein Fall, in dem die Worte Jesu Anwendung finden: „Sie schnüren schwere Lasten zusammen und laden sie den Menschen auf die Schultern, aber sie selbst machen keinen Finger krumm, um sie zu tragen“?[8] Die Entscheidung hierüber überlasse ich jedem selbst. Ich weiß nur, was mein Gewissen mir gesagt hat und welche Position zu beziehen ich mich gedrängt fühlte.

Ich habe den Eindruck, die Mitglieder der leitenden Körperschaft meinten im großen und ganzen trotzdem, sie seien auf dem richtigen Weg. Was dachten sie sich dabei, wenn sie an ihrer Entscheidung zum Gemeinschafts­entzug festhielten, obwohl eine greifbare Minderheit oder die Hälfte ihrer Mitglieder oder sogar mehr dagegen waren?

Als sich die Diskussion einmal hinschleppte und absehbar war, daß es wieder eine solche Situation geben würde, sagte Ted Jaracz etwas, das vielleicht auch die Denkweise anderer widerspiegelte. Jaracz war wie Dan Sydlik slawischer Abstammung (aus Polen), unterschied sich von ihm aber in Körperbau und Wesensart. Während sich Sydlik oft spontan von seinem Instinkt leiten ließ, um über Recht und Unrecht einer Sache zu entscheiden, war Jaracz eher leidenschaftslos, kühl und sachlich. In der erwähnten Sitzung räumte er ein, die bestehende Regelung könne für einzelne, die sich in der besonderen Lage gerade befanden, wohl eine Härte darstellen, und setzte dann hinzu:

„Es ist doch nicht so, daß wir nicht mit ihnen mitfühlen könnten, aber wir müssen immer im Sinn behalten, daß wir es nicht bloß [104] mit zwei oder drei Leuten zu tun haben, wir müssen die große, erdenweite Organisation im Auge behalten und daran denken, wie sich das auf die ganze Organisation auswirkt.“[9]

5.3.2 Einzelinteressen dem Interesse einer Organisation geopfert: Ein Altar der Dämonen!

Diese Ansicht, daß für den einzelnen gut ist, was für die Organisation insgesamt gut ist, und daß die Interessen einzelner im Endeffekt geopfert werden müssen, wenn die Interessen der großen Organisation dies zu erfordern scheinen, fand offensichtlich breite Zustimmung.

Einige Argumente liefen auch darauf hinaus, daß das geringste Abweichen von den starren Regeln sozusagen die Dämme brechen lassen und den Weg für viele Übertretungen ebnen würde. Ein oder zwei extreme Beispiele, die gerade zur Hand waren und mit dem behandelten Fall in Verbindung gebracht werden konnten, wurden dann als schlagender Beweis für die Gefährlichkeit eines solchen Vorgehens zitiert. Das furchteinflößende Gespenst dieser Gefahr mußte gewöhnlich immer dann herhalten, wenn schon lange vor der Abstimmung ziemlich klar war, daß recht viele für eine Änderung sein würden. In einem Fall drängte Milton Henschel mit großem Ernst zur Vorsicht und sagte: „Wenn wir den Brüdern das erlauben, wer weiß, wie weit sie dann noch gehen werden.“ Andere äußerten sich ähnlich. Sicher glaubten sie aufrichtig, es sei nötig, bestimmte gewohnte Regeln ganz strikt einzuhalten, um die Gefolgschaft „auf Kurs“ zu halten, damit sich niemand aus dem Schutzwall der Vorschriften hinaus verirrt.

Wenn sich dieser Schutzwall tatsächlich in der Bibel fände, hätte ich ihm sogar gerne zugestimmt. Sehr oft stellte sich aber heraus, daß es ihn nicht gab. Das zeigte sich ganz eindeutig daran, daß die Ältesten (oft Mitglieder eines Zweigkomitees], die eine Anfrage eingesandt hatten, in der Bibel nichts darüber finden konnten, sowie daran, daß die leitende Körperschaft selbst auch nichts finden konnte. Man mußte darum in langen Gesprächs­runden, die manchmal in regelrechte Debatten ausarteten, erst um die eigene Ansicht dazu ringen.

5.3.3 Soll ein Mensch das verbieten, was Gott erlaubt?

In dem obenerwähnten Beispiel sagte ich auf Milton Henschels Äußerung, meiner Meinung nach stünde es uns gar nicht zu, den Brüdern irgend etwas zu erlauben. Vielmehr sei es Gott, der es ihnen überläßt, manche Dinge zu tun, weil sein Wort sie entweder gutheißt oder nichts darüber sagt. Und genauso verbietet er auch etwas, indem sein Wort die Handlung eindeutig verurteilt, sei es nun direkt oder in Form eines klaren Grundsatzes. Als sündige, irrende Menschen seien wir nie und nimmer von Gott befugt zu entscheiden, was anderen erlaubt oder verboten sein solle. An alle im Kollegium richtete ich die Frage: „Warum sollten wir versuchen, Gott zu spielen, wenn doch die Bibel sich in dieser Frage nicht festlegt? Das kann doch nur schiefgehen. Weshalb sollten wir dann in solchen Fällen nicht ihn Richter sein lassen?“ Diese Ansicht habe ich bei anderen Anlässen wieder­holt, wenn das gleiche Argument wieder vorgetragen wurde. Ich hatte [105] allerdings nicht den Eindruck, auf große Resonanz gestoßen zu sein. Die Entscheidungen zeigten stets, daß die Mehrheit nicht meiner Meinung war. Wenn das Schreckensbild von möglicherweise überhandnehmenden Ver­stößen an die Wand gemalt wurde, falls wir als leitende Körperschaft eine bisher bestehende Vorschrift aufhoben, kam mir das immer so vor, als würde damit der Verdacht ausgesprochen, unsere Brüder hätten keine echte Liebe zur Gerechtigkeit, in ihrem Innernwollten sie sündigen, und nur durch die Anweisungen der Organisation seien sie davon zurückzuhalten. Dabei erinnerte ich mich an einen Artikel, den die Gesellschaft ein paar Jahre zuvor in ihrer Zeitschrift Erwachet! veröffentlicht hatte. Darin war von einem Polizeistreik in Kanada die Rede und davon, daß die Abwesenheit der Polizei für einen Tag genügte, um Menschen, die sonst anständige Bürger waren, zu allen möglichen Gesetzesübertretungen zu veranlassen. In Erwachet! wurde darauf abgehoben, daß wahre Christen keine Aufpasser brauchten, um gesetzestreu zu handeln.[10]

Aus welchem Grund, so fragte ich mich, meinte dann die leitende Körper­schaft, es sei gefährlich, eine traditionelle Vorschrift aufzuheben, denn dies könne „die Dämme brechen lassen“ und zu verbreiteter Unsittlichkeit und anderem Fehlverhalten unter den Brüdern führen? Was zeigte das hinsicht­lich unserer Einstellung gegenüber den Brüdern und unseres Vertrauens zu ihnen? Bestand denn unserer Ansicht nach überhaupt noch ein Unterschied zwischen den Brüdern und den Leuten, die während des Polizeistreiks in Montreal die Gesetze brachen? Inwieweit trauten wir ihnen überhaupt eine echte, tiefe Liebe zur Gerechtigkeit zu? Die vorherrschende Meinung innerhalb der leitenden Körperschaft schien manchmal zu sein: „Traue keinem außer dir selber.“ Wie ein Vorbild an Bescheidenheit kam mir das wahrlich nicht vor.

5.3.4 Jede alte Regelung schafft neue Probleme, wenn man sie als falsch erkennt und abschafft!

Der geistige Hintergrund zeigte sich des öfteren auch in der Bemerkung, die betreffende Vorschrift sei schließlich schon so lange in Kraft. Im Laufe der Jahre hatten Tausende diese Bürde bereits getragen, auch wenn das für sie manchmal bedeutete, ins Gefängnis zu gehen oder andere Leiden auf sich zu nehmen. Wenn man das jetzt ändere, so hieß es nachdrücklich, dann könnten all die Betroffenen das Gefühl bekommen, sie hätten unnötig gelitten. Vielleicht hatte ihnen das Leiden eine innere Befriedigung ver­schafft, da sie denken konnten, sie hätten um der Gerechtigkeit willen gelitten. Jetzt aber nehme man ihnen diese Illusion, und sie könnten eventuell meinen, es sei unfair, daß sie eine Art Märtyrer hatten spielen müssen und andere würden jetzt davon verschont.

Mit der Bibel konnte ich das nicht vereinbaren. Sie fordert uns im Gegenteil dazu auf, uns zu freuen, wenn wir wissen, daß andere diese Last nicht mehr auf sich zu nehmen brauchen, um ihren guten Ruf in der Organisation zu bewahren. Ein Vergleich: Sollte jemand, der wegen zu hoher Abgaben seinen Bauernhof aufgeben mußte, sich nicht mit seinen Freunden, denen das [106] gleiche Schicksal drohte, freuen, wenn die Abgabe abgeschafft wird? Und wäre der Bergarbeiter mit der Staublunge nicht froh, wenn sich die Arbeits­bedingungen auf der Zeche besserten, selbst wenn das ihm keinen Vorteil mehr bringen würde? So müßte ein wahrer Christ doch eigentlich reagieren. Die Besorgnis, die einige Mitglieder der leitenden Körperschaft äußerten, erinnerte an das, was die Männer in Jesu Geschichte vom Weinberg dachten, die viele Stundenlang in der Hitze des Tages ausgehalten und hart gearbeitet hatten. Als die Arbeiter, die erst zur elften Stunde begonnen hatten und diese Strapazen nicht erdulden mußten, den gleichen Lohn wie sie erhalten sollten, fanden sie das ungerecht. Oder es erinnerte an die Einstellung des älteren Bruders vom verlorenen Sohn, der zu seinem Vater sagte: „Ich habe so viele Jahre wie ein Sklave für dich gearbeitet, und kein einziges Mal habe ich dein Gebot übertreten.“ Er empfand es als ungerecht, daß sein jüngerer Bruder nicht denselben Anforderungen genügen sollte, um das Wohlwollen des Vaters zu erhalten,[11] Auch hier hatte ich wieder den Eindruck, daß man den Brüdern falsche Motive unterstellt, wenn man meint, sie würden sich nicht darüber freuen, daß andere weniger zu leiden haben. Meiner Ansicht nach mußten vielmehr wir selbst uns fragen, wieweit unsere Besorgnis nicht daher rührte, daß wir Angst hatten, einen Fehler zuzugeben, weil wir um das Image der leitenden Körperschaft fürchteten, um ihre Glaubwürdig­keit und das Vertrauen, das man ihr entgegenbringt.

5.4 Theokratischer Gruppenzwang führt zu mörderischen Konsequenzen!
5.4.1 Totalitärer Gruppenzwang das zu tun, was die leitende Körperschaft beschlossen hat

Es waren wahrhaftig keine Lappalien, über die da gestritten wurde, wenn man an die Auswirkungen dieser Entscheidungen denkt. Wer sich einer einmal veröffentlichten oder anderswie bekanntgegebenen Entscheidung der leitenden Körperschaft nicht unterwarf, konnte ausgeschlossen werden, und das war durchaus üblich. Damit war man von der Versammlung, von der eigenen Familie und dem Freundeskreis abgeschnitten. Beugte man sich aber, so konnte das die Aufgabe des Arbeitsplatzes bedeuten, auch wenn manchmal kaum andere Arbeit zu bekommen war und die Familie versorgt werden mußte. Es konnte auch bedeuten, Wünsche des Ehepartners abzu­lehnen, was zu Ehescheidungen geführt hat, zur Zerrüttung von Ehen und. Familien, so daß Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Man konnte sich gezwungen sehen, einem Gesetz des Landes den Gehorsam zu verweigern, was die Verhaftung und den Abtransport an einen anderen Ort zur Folge haben konnte, so daß die Familie auseinandergerissen wurde. Es konnte sogar den Verlust des Lebens bedeuten, oder – was sogar noch schlimmer sein kann – daß man mit ansehen mußte, wie nahe Angehörige zu Tode gebracht wurden.

Welche Schwierigkeiten sich einstellten, wenn doch einmal eine Änderung vorgenommen wurde, sei hier am Beispiel der Einstellung der Organisation zu Blutern und dem Einsatz von Blutbestandteilen (meist Blutplättchen oder Blutgerinnungsfaktor VIII) zur Verhinderung des Verblutens geschil­dert. [107]

5.4.2 Der mörderische Fall von Blutern, die entweder zum Tod oder zum Versammlungsausschluss verurteilt wurden

Wandten sich Bluter an die Weltzentrale oder ein Zweigbüro mit der Bitte um Auskunft, so wurde ihnen lange Jahre hindurch geantwortet, man hätte gegen den einmaligen Einsatz dieses Blutbestandteils nichts einzuwenden, da dies der Einnahme eines Medikaments gleichkomme. Werde das Mittel aber öfter als einmal eingesetzt, so stelle dies eine Zufuhr dieses Blutbe­standteils „zur Ernährung“ dar und werde deshalb als Verletzung des biblischen Verbots des Essens von Blut angesehen.[12]

Ein paar Jahre später wurde die Anweisung geändert. Den Mitarbeitern, die diese Anfragen bearbeiteten, war bewußt, daß sie in der Vergangenheit das Gegenteil geantwortet hatten, und daß Bluter, die ihre „genehmigte“ eine Injektion schon bekommen hatten, immer noch der Meinung waren, ein zweites Mal würde als Übertretung des biblischen Gebots gelten. Sie konnten verbluten, weil sie sich daran hielten.

Da die frühere Regelung nur einzelnen auf Anfrage mitgeteilt, aber nie gedruckt worden war, mochte sich die Leitung nicht dazu durchringen, die neue Position zu veröffentlichen, denn das hätte erfordert, als erstes die alte Position zu erläutern und dann zu erklären, weshalb sie nun hinfällig war. Das erschien nicht wünschenswert. So durchforsteten die Mitarbeiter alle ihre Unterlagen, um Name und Anschrift sämtlicher Betroffenen zu ermit­teln, damit sie schriftlich auf die Änderung hingewiesen werden konnten. Den Mitarbeitern war so wohler zumute.

Doch dann stieg ihnen auf, daß viele Anfragen telefonisch eingegangen waren und ihnen keine Aufzeichnungen über diese Gespräche vorlagen, so daß sie unmöglich herausfinden konnten, welche Bluter alle angerufen hatten. Sie wußten weder, ob in der Zwischenzeit einer von ihnen gestorben war, noch ob jemand in Zukunft sterben würde, weil er sich nach der alten Vorschrift richtete. Sie wußten nur, daß sie ihre Anweisungen befolgt und ihren Vorgesetzten innerhalb der Organisation gehorcht hatten.

Diese Änderung der Richtlinien erhielt mit der Sitzung der leitenden Kör­perschaft vom 11. Juni 1975 schließlich offiziellen Charakter. Doch erst 1978 wurde die neue Regelung imWachtturm vom 1. Oktober veröffent­licht, dazu noch in recht verschleierter Form und seltsamerweise im Zu­sammenhang mit der Frage der Injektion von Blutserum zur Abwehr von Krankheiten (während es sich bei Hämophilie, dem Leiden der Bluter, nicht um eine Krankheit, sondern um einen ererbten genetischen Defekt handelt). Noch immer wurde nicht zugegeben, daß dies eine Änderung der früheren Regelung über den mehrfachen Einsatz von Blutbestandteilen bei Blutern darstellte.

5.4.3 Einschneidende Freiheitsbeschränkungen zufolge von Scheinargumentationen

Wenn man so die Argumente hörte, die in den Sitzungen der leitenden Körperschaft vorgetragen wurden, fühlte man sich bisweilen an die vielen Rechtsfälle erinnert, die Jehovas Zeugen vor dem Obersten Gerichtshof der USA ausgefochten hatten. Die Argumente der gegnerischen Anwälte glichen [108] oft genau denen, die jetzt zu hören waren. Es wurden diemöglichen Gefahren beschworen. Man behauptete, die Haus-zu-Haus-Tätigkeit könne leicht Ärgernis erregen oder als Deckmantel für Einbrüche und andere kriminelle Handlungen benutzt werden, und deswegen sei es gerechtfertigt, die Freiheit der Zeugen Jehovas zur Ausübung dieser Tätigkeit einzuschrän­ken. Die Gegenseite sagte, wenn man den Zeugen die Freiheit lasse, ihre öffentliche Tätigkeit fortzusetzen oder Vorträge in Parkanlagen zu halten, so könne dies an einigen Orten zu Zusammenstößen mit der Bevölkerung führen, da diese ihnen insgesamt feindlich gesonnen sei, und daß man diese Freiheit darum beschränken müsse. Es hieß ferner, wenn man den Zeugen gestatte, ihre Ansichten, beispielsweise zum Thema Flaggengruß, offen zu verkünden, oder wenn sie weltliche Regierungen als „Teil der Organisation des Teufels“ beschrieben, dann könne dies den Interessen des ganzen Staates schaden, möglicherweise zu Ungehorsam auf breiter Front führen und sei daher staatsgefährdend. Beschränkungen seien einfach notwendig. Mit bemerkenswerter Einsicht und Gedankenschärfe entlarvten die Richter am Obersten Gerichtshof diese Argumente in vielen Fällen als Scheinargu­mente. Sie mochten dem nicht zustimmen, daß die Rechte einzelner oder einer unpopulären Minderheit einfach deshalb zu beschneiden seien, weil eine mögliche oder eingebildete Gefahr oder die angeblichen Interessen der überwiegenden Mehrheit dies wünschenswert erscheinen ließen. Zur Begründung sagten sie, diese Freiheiten dürften erst dann eingeschränkt werden, wenn die Gefahr nicht nur eine Befürchtung sei, etwas, von dem man annimmt, daß es eintreten könne. Der Nachweis müsse erbracht werden, daß es sich um eine „eindeutige und gegenwärtige Gefahr“ handle, die wirklich bestehe.[13]

5.4.4 Weltliche Richter mit mehr Unterscheidungsvermögen zwischen recht und unrecht zu unterscheiden

Wieviele Prozesse wären wohl zu Gunsten der Zeugen Jehovas ausgegangen, wenn diese obersten Bundesrichter nicht so großes Unterscheidungsvermö­gen gezeigt hätten, wenn sie nicht so klar gesehen hätten, was das zentrale Problem war, und wenn ihnen nicht der einzelne so am Herzen gelegen hätte? In den Veröffentlichungen der Gesellschaft wurden ihre Entschei­dungen begrüßt, und es ist traurig, feststellen zu müssen, daß das hohe Niveau ihres Urteilsvermögens und ihr Mut, heiße Eisen anzugehen, weit über dem lagen, was sich in den Sitzungen der leitenden Körperschaft zeigte. Dabei kommen einem die Worte eines der Bundesrichter in dem konkreten Fall eines Zeugen in den Sinn:

„Was den Fall so schwer macht, ist nicht, daß die Rechtsgrundsätze, nach denen entschieden werden muß, im Dunkeln lägen, sondern daß es sich hier um unsere eigene Fahne handelt. Und doch wenden wir hier die Beschränkungen der Verfas­sung an, ohne zu befürchten, daß unser Gemeinwesen an der Freiheit, auf geistigem oder religiösem Gebiet anderer oder sogar entgegengesetzter Meinung zu sein, zerbrechen wird …. Die Freiheit zum Anderssein ist nicht auf Dinge [109] beschränkt, die weniger wichtig sind. Das wäre nur eine Scheinfreiheit. Die Substanz dieses Rechts zeigt sich erst darin, ob jemand in Dingen anderer Meinung sein kann, die den Lebensnerv der bestehenden Ordnung treffen.“[14]

Der Richter hatte offensichtlich ein entschieden größeres Zutrauen zur bestehenden Sozialordnung und den Freiheiten, die sie einräumte, als einige Mitglieder der leitenden Körperschaft zu ihren Glaubensgenossen und den Folgen, die deren Gewissensfreiheit im Falle ihrer Ausübung auf die bestehende „theokratische Ordnung“ haben könnte. Hätten die Richter am Obersten Bundesgericht so argumentiert wie einige in der leitenden Körper­schaft, dann hätten die Zeugen Jehovas wahrscheinlich einen Prozeß nach dem anderen verloren.

Über Gerichtsentscheide urteilt die Geschichte. Die Ankündigung der Bibel, daß jeder Älteste unter den Christen an einem bestimmten Tag in der Zukunft dem obersten Richter wird Rechenschaft ablegen müssen darüber, wie er mit Gottes Schafen umgegangen ist, sollte für alle, die unter Christen eine verantwortliche Stellung innehaben, Grund genug sein, ihr Handeln sorgfältig abzuwägen.[15]

Da die Organisation durch die Entscheidungen ihres Führungsgremiums eine so große Macht über ihre Mitglieder ausübt und wegen der enormen Bedeutung, die diese Entscheidungen für das Leben der Betroffenen haben können, erscheint es mir angebracht, als nächstes das in meinen Augen gravierendste Beispiel von Inkonsequenz vorzustellen, das mir in den neun Jahren meiner Mitgliedschaft untergekommen ist. Noch immer fällt es mir schwer zu glauben, daß Männer, die so besorgt darum bemüht waren, kompromißlos zu sein, die die Organisation rein erhalten wollten und jeden Hauch von Weltlichkeit zu vermeiden trachteten, zur selben Zeit etwas vertuschen konnten, was man nur als schockierend beschreiben kann. Ob dieser Ausdruck angemessen ist, entscheide man nach dem Lesen des nächsten Kapitels selbst. [110]

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[1] Da sämtliche Sitzungen der leitenden Körperschaft nichtöffentlich sind, können nur deren Mitglieder erleben, was sich in ihnen wirklich abspielt.
[2] Dies war selbst noch zu Lebzeiten Nathan Knorrs die übliche Verfahrensweise von Fred Franz, dem Hauptautor der Gesellschaft. Die Gedankengänge und Interpretationen, die aus seiner Feder stammten, konnten erst begutachtet und besprochen werden, wenn sie bereits vollständig ausformuliert vorlagen – und das tat normalerweise nur der Präsident selbst.
[3] Siehe Wachturm Mai 1980, S. 8-24.
[4] Ich erinnere mich nur an wenige Male, bei denen ich in den mehr als acht Jahren mit meiner Stimmenthaltung ganz allein dastand. Die mir vorliegenden Aufzeichnungen bestätigen das auch.
[5] Da die Sitzungen geheim sind, ist es natürlich auch unwahrscheinlich, dass irgend jemand davon erfahren wird. Die Sitzungsprotokolle werden keinem anderen Zeugen Jehovas zugänglich gemacht.
[6] Drei von fünf sind 60 Prozent, nicht 66 2/3 Prozent, wie es für eine Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre
[7] Gemäß meinen Aufzeichnungen stimmten dafür: John Booth, Ewart Chitty, Raymond Franz, George Gangas, Leo Greenlees, Albert Schroeder, Grant Suiter, Lyman Swingle und Dan Sydlik. Dagegen waren: Carey Barber, Fred Franz, Milton Henschel, William Jackson und Karl Klein. Ted Jaracz enthielt sich der Stimme.
[8] Matthaus 23:4, Die Bibel in heutigem Deutsch.
[9] Das war es wohl im wesentlichen auch, was Milton Henschel meinte, wenn er so häufig davon sprach, wir müßten in solchen Angelegenheiten „praktikable“ Wege suchen, denn in den Abstimmungen standen er und Ted Jaracz meist auf derselben Seite.
[10] Siehe Erwachet! vom 8. März 1970, S. 21-23
[11] Matthaus 20:1-15; Lukas 15:25-32.
[12] Dabei bezog man sich unter anderem auf 1. Mose 9:3, 4; 3. Mose 17:10-12; Apostelgeschichte 15:28, 29.
[13] Siehe die nur in Englisch erschienene Veröffentlichung der Gesellschaft mit dem Titel: Defending and Legallyy Establishing the Good News (Die Verteidigung und gesetzliche Verankerung der guten Botschaft( (1950), S. 58.
[14] a.a.O., S. 62.
[15] Hebräer 13:17.