Jehovas Zeugen – Ich war 16 Jahre bei den Zeugen Jehovas, jetzt habe ich eine Botschaft
Margit Ricarda Rolf war Mitglied bei den Zeugen Jehovas. In den 80er Jahren trat sie zusammen mit der Familie ein, 2001 gelang ihr der Ausstieg. Seit 2004 unterstützt sie Menschen, die ebenfalls bei der Sekte aussteigen wollen.
Was viele herunterspielen, wenn es um Sekten geht: Bei Gruppen wie den Zeugen Jehovas werden Kinderseelen zerstört. Das weiß ich nicht nur, weil ich mich um junge Aussteiger gekümmert habe, sondern auch, weil ich es selbst bei meinen eigenen Kindern erlebt habe.
Mit 34 Jahren habe ich mich auf Gespräche mit der Sekte eingelassen: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich überzeugt hatten und wir – also mein Mann und ich wurden als Zeugen Jehovas getauft und nahmen unsere beiden Kindern mit in die Versammlung.
Wir haben während dieser Zeit noch zwei weitere Kinder bekommen. Wir dachten, dass es etwas Gutes sei, eine große Familie zu sein. Schließlich würden wir alle ins Paradies kommen, da wir auserwählt sind.
Erst der “Text des Tages”, dann die erste Mahlzeit
Nur für unsere Kinder war es kein Paradies. Es war schrecklich. Schon die Atmosphäre bei den Zeugen ist kinderfeindlich.
Ich erinnere mich an die schönen Sommertage, die meine Kinder drinnen verbracht haben. Sie mussten den Wachtturm vorstudieren, während andere Kinder draußen gespielt haben.
Auf den langwierigen Versammlungen mussten sie still sitzen und durften sich kaum bewegen. Kinder sollen vom Mutterleib an lernen, was in der Bibel steht.
Die Zeugen Jehovas haben unseren gesamten Alltag bestimmt.
Das hat schon nach dem Aufstehen begonnen. Meine Kinder mussten morgens als Erstes mit mir den Text des Tages besprechen, bevor sie überhaupt etwas essen durften.
Wegen der Zeugen Jehovas haben auch meine drei älteren Kinder kein Gymnasium besucht, Bildung ist nämlich bei der Sekte verpönt. Meine Kinder werfen mir das noch heute vor.
Aber es war für uns kaum möglich, sie frei zu erziehen:Glaubensschwestern oder Älteste haben sie während unseres Predigtdienstes ausgehorcht.
Sie wollten wissen, ob wir auch alle Vorschriften einhalten: “Spricht eure Mutter mit euch auch den Text des Tages durch?”; “Was unternehmt ihr so zusammen?”
Keine Sekunde länger wollte ich in dieser Sekte bleiben
Der erste Bruch kam, als meine älteste Tochter mit 17 Jahren ausgestiegen ist. Wir durften dann eigentlich keinen Kontakt mehr zu ihr haben, haben uns aber nicht daran gehalten.
Einige Zeit später bekam auch mein Sohn Probleme mit den Ältesten – das war für unsere Familie sehr belastend, wir wollten uns nicht gegen unsere Kinder entscheiden. Irgendwann hat es meinem Mann jedoch gereicht: Er hat beschlossen, nicht mehr zu den Versammlungen zu gehen.
Er war auch der Meinung, dass unsere jüngsten Kinder nicht mehr mitkommen müssen, wenn sie nicht wollen. Sie wollten nicht.
Ich war dann allein bei den Versammlungen und wurde ausgegrenzt. Ich wurde ignoriert, fallen gelassen. Das war sehr hart für mich. Denn es ist wirklich schwer, aus dieser Abhängigkeit, diesen Überzeugungen, die man hat, wieder herauszukommen.
Bis ich mich eines Tages bei einer Versammlung, in der uns in grellen Farben der Weltuntergang ausgemalt wurde, gefragt habe: Was mache ich hier noch? Das ist doch pure Angstmacherei!
Währenddessen hat mein Mann im Internet eine Seite von Aussteigern gefunden. Ich war sofort neugierig und habe Kontakt aufgenommen. Danach habe ich mich sehr kritisch mit den Zeugen Jehovas auseinandergesetzt.
Mir wurde klar, dass die Übersetzungen der Bibel bei den Zeugen oft falsch dargestellt wurden, um die Mitglieder klein zu halten und beispielsweise als Hausierer zu missbrauchen.
Keine Sekunde länger wollte ich fortan in dieser Sekte bleiben.
Die Zeugen Jehovas beschneiden das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung
Später habe ich mich dabei engagiert, Aussteigern zu helfen. Viele junge Menschen wollen raus, wenn sie in die Pubertät kommen.
Oft gibt es ein Elternteil, das nicht dazugehört und zu dem der Kontakt abgebrochen wurde. Was ich besonders schlimm finde: Schon da werden Kinder traumatisiert.
Bei den Zeugen Jehovas hören sie dann, dass der Vater oder die Mutter, die nicht Teil der Sekte sind, dem Satan gehören würden.
Wenn Kinder noch klein sind, glauben sie das – sie haben dann wahnsinnige Angst um ihre Eltern. Sie bekommen Panikattacken und nässen sich ein. So werden Seelen zerstört. Insbesondere die von Kindern.
Was ich durch meine Hilfe für Aussteiger und durch meine eigene Erfahrung mitbekommen habe: Kinder werden psychisch misshandelt, gegängelt und geprügelt.
Eine Sekte wie die Zeugen Jehovas beschneidet das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung.
Aber Kinder können sich nicht wehren. Deshalb brauchen sie eure Hilfe – wir müssen unbedingt die Kinderrechte stärken.
Wer aus einer Sekte aussteigen möchte und Hilfe braucht, kann sich gerne über meinen Blog an mich wenden.
Das Gespräch wurde von Lisa Mayerhofer aufgezeichnet.
Quelle: Focus | Margit Ricarda Rolf