Seine ganze Kindheit und Jugend gehörte der jetzt 41-jährige Mann aus St.Gallen den Zeugen Jehovas an. Mit 23 Jahren brach er radikal. Fast zwei Jahrzehnte später sagt er: «Erst jetzt lebe ich ein selbstbestimmtes Leben.» Protokoll eines Ausbruchs aus den Fängen einer Sekte.

Die Kindheit: Missionieren von Haus zu Haus

«Ein kleiner Bub war ich, siebenjährig und zog an meinen schulfreien Nachmittagen mit einem Erwachsenen von Haus zu Haus. Wir klingelten an den Türen, sprachen mit den Menschen über den nahenden Weltuntergang Harmagedon und das anschließende ewige Leben im Paradies, für alle, die sich der Lehre der Zeugen Jehovas unterwerfen. Ich habe diese Predigtdienste gehasst. Besonders den Straßendienst wo man mit dem Wachtturm – der Broschüre der Zeugen – an einer Straßenecke steht. Jedes Mal, wenn ein Klassenkamerad vorbeigegangen ist, habe ich mich geschämt. Bis zu zwölf Stunden im Monat war ich damals unterwegs im Namen der Zeugen Jehovas, um verlorene Seelen zu retten. Es war schlimm, dieses Hausieren, doch was wir erzählt haben, das habe ich mit tiefer Überzeugung geglaubt.

Die Familie: Den Kontakt zur Mutter verwehrt

Mein Vater und meine Stiefmutter lebten mit mir und meinem Zwillingsbruder und meinem älteren Bruder in Wuppertal, Deutschland. Der Kontakt zu meiner leiblichen Mutter wurde mir verwehrt. Sie verschwand aus meinem Leben, als ich etwa fünf war. Bis heute habe ich kaum Kontakt zu ihr. Ich weiss, dass sie mit den Zeugen Jehovas gebrochen hatte und in Alkoholismus und Arbeitslosigkeit abrutschte. Wirklichen Kontakt zu anderen Menschen ausserhalb der Zeugen Jehovas hatte ich nicht.

Ich besuchte zwar die öffentliche Schule, doch es war uns nicht erlaubt, engere Kontakte zu pflegen; keine Geburtstagsfeiern, keine Partys, keine Disco und keine Beziehungen mit Mädchen, denn Sex vor der Ehe ist tabu. Schliesslich konnte man den Nichtzeugen, den Weltmenschen, wie wir sie nannten, nicht trauen. Es waren in unseren Augen allesamt Menschen, die in Harmagedon vernichtet werden würden. Nur uns Zeugen war das ewige Leben sicher. Nur für dieses lebten wir.

Die Predigtdienstschule: Selber denken nicht erwünscht

In der Predigtdienstschule – der Gottesdienst der Zeugen am Freitag und am Sonntag – lernte ich, kaum konnte ich schreiben, kleine Fünfminuten-Vorträge über ein biblisches Thema zu halten. Das gehörte genauso dazu, wie das wöchentliche Treffen mit Buchstudium in einer Privatwohnung. Dort arbeiteten wir Bücher durch mit Fragestellungen zum biblischen Leben. Die Antworten waren allesamt schon feinsäuberlich notiert. Selber denken und hinterfragen war ausdrücklich nicht erwünscht.

Das schwarze Schaf: In einem Kellerzimmer

Der ältere Bruder war eine Enttäuschung für meine Eltern. Er hat sich von den Zeugen abgewendet, trank Alkohol und hörte Heavy Metal-Musik. Schon früh führte er ein abgesondertes Leben ohne Kontakt zur Familie in einem Zimmer im Keller. Dieses Zimmer war für uns tabu. Unser Bruder auch. Ich hatte keinen Kontakt zu ihm. Manchmal, wenn niemand zu Hause war, schlich ich mich in das Zimmer im Keller und sah mich um. Unser ältester Bruder war viel bei unserer Großmutter. Sie hat viel geweint und hatte keine Chance, zu meinem dogmatischen Vater durchzudringen. Mein ältester Bruder bewegte sich zeitweise in der rechtsradikalen Szene.

Die Lehre: Beruf spielt keine Rolle

Nach der Schule begann ich eine Lehre als Chemikant. Ich habe diesen Beruf gehasst. Aber ich war überzeugt, dass das Ende nahe ist, und es gar keine Rolle spielt, was für einen Beruf ich lerne.

Die Ehe: Nur gestritten, ohne Liebe

Das nächste Kapitel, das nie hätte sein dürfen: Mit 21 Jahren habe ich geheiratet. Wir waren nicht reif dafür. Wir sind uns körperlich näher gekommen, das war strikt verboten vor der Ehe. Ich glaubte, dass Gott alles sieht, sogar meine Gedanken lesen kann. Wir mussten es beichten und – heirateten. Zur gleichen Zeit, als ich Heiratspläne hegte, verliebte sich mein Zwillingsbruder in ein Mädchen ausserhalb der Zeugen und wurde ausgeschlossen aus der engen Gemeinschaft. Er war mein wichtigster Mensch für mich und ich durfte ihn nicht an meine Hochzeitsfeier einladen. Ausgestiegene Zeugen sind das Schlimmste für die Versammlung, denn sie haben sich bewusst von der einzigen Wahrheit abgewendet. In ihren Augen sind sie noch schlimmer als Mörder oder Vergewaltiger. Mein Hochzeitstag war die Hölle, mein schlimmster Tag. Auch die Ehe geriet zur Katastrophe. Wir haben nur gestritten, waren nicht reif genug, haben uns nicht geliebt. Die Verbindung hielt zwei Jahre.

Der Bruch: Schuldig und verdammt

Mein Zwillingsbruder, der mittlerweile fern von den Zeugen Jehovas im deutschen Passau lebte, suchte in dieser Zeit immer wieder den Kontakt zu mir, bis ich ihn dann besuchte. Zusammen mit ihm ging ich erstmals im Alter von 23 Jahren an eine Gothic-Party und verliebte mich unsterblich in ein Mädchen. Sie war der Grund, weshalb ich mit den Zeugen Jehovas, mit meinem ganzen alten Leben brach. Ich kündigte meine Stelle, liess mich scheiden, brach den Kontakt zu meinem Elternhaus komplett ab. Es war nicht die Überzeugung, dass die Zeugen falsch lagen mit ihrer Weltanschauung. Im Gegenteil, ich habe mich schuldig und verdammt gefühlt. Ich war mir sicher, dass ich jetzt verloren bin. Ich konnte mich nicht mehr ansehen, war der Überzeugung, dass Gott mich hasst, malte mein Gesicht weiss, die Lippen schwarz an, trank mich jeden Abend mit Absinth und Whiskey weg und wurde Satanist – wenn Gott mich hasst, muss mich der Teufel lieben.

Gleichzeitig hatte ich einen riesigen Freiheitsdrang und beschäftigte mich exzessiv mit Magie, Okkultismus und Satanismus. Ich wollte alles wissen und dieses riesige schwarze Loch in mir irgendwie füllen. Die Beziehung zur neuen Liebe, eine Frau mit Borderline-Syndrom, hielt dreieinhalb Jahre. Und dann lernte ich Carl Friedrich Frey – genannt Akron – in St.Gallen kennen. Er ist der Grund, weshalb ich hier in St.Gallen lebe. 17 Jahre lang hatte ich ein Schüler-Lehrer-Verhältnis zu ihm. Er hat mir geholfen, für mich selber zu denken und zu hinterfragen, er half mir, mein altes Weltbild in einem langen Prozess zu zerstören und an meine eigene Freiheit zu glauben. Es war eine Schlüsselbegegnung in meinem Leben. Nach seinem Tod im letzten Jahr hat er mir sein Amulett, das er ständig trug, vererbt.

Das neue Leben: Endlich fähig, zu genießen

Die Beziehung zu meiner nächsten Freundin dauerte dann zehn Jahre. In dieser Zeit fing ich an zu gamen, ich lebte komplett in einer künstlichen Welt durch diese Spiele. Zudem beschäftigte ich mich ständig mit dem Tod. Bei den Zeugen herrscht die Überzeugung, dass nach Harmagedon das Leben erst richtig beginnt. Das jetzige Leben ist nur die Vorbereitung auf das ewige Leben im Paradies. Mit 30 Jahren fing ich nochmals eine Lehre als Mediamatiker an. Ich bin jetzt 41 Jahre alt und würde sagen, dass ich seit zwei, drei Monaten bereit bin, das Leben endlich zu genießen, fähig bin, Neues auszuprobieren und endlich beziehungsfähig bin. Auch mein Zwillingsbruder hat nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Rehabilitationsklinik den richtigen Weg gefunden. Er hat das Abitur nachgeholt und studiert jetzt Philosophie, möchte doktorieren. Ich habe viele der Höllen erlebt, in denen Menschen stecken können. Ich kann mich deshalb sehr gut in Menschen hineinfühlen. Wahrscheinlich wird es in meinem Leben immer depressive Phasen geben, doch ich gebe diesen nicht mehr nach.»

InfoSekta: Am meisten Anfragen zu Jehovas Zeugen 

2400 Personen suchten im Jahr 2017 Hilfe bei der Fachstelle für Sektenfragen. Wie es im neusten Bericht von InfoSekta heißt, erhält die Fachstelle seit Jahren am meisten Anfragen zu den Zeugen Jehovas, zunehmend auch von verunsicherten Noch-Mitgliedern, Aussteigern und Ausgeschlossenen. Ein großes Thema ist der sexuelle Missbrauch von Kindern im geschlossenen System der Zeugen Jehovas. In mehreren Ländern laufen Gerichtsverfahren wegen sexueller Übergriffe gegen Mitglieder der christlich-fundamentalistischen Gemeinschaft. Ratlosigkeit angesichts der Verblendung der Betroffenen, Angst vor dem Auseinanderbrechen der Familie, schleichende Entfremdung bis hin zum Kontaktabbruch und Angst um das Wohl der Kinder, die unter sektenhaftem Einfluss stehen, sind die häufigsten Gründe für eine Anfrage bei InfoSekta. Infosekta ist eine konfessionell unabhängige Beratungsstelle für Fragen rund um sektenhafte Gruppen und verwandte Themen. Die Fachstelle besteht seit 1991. (chs)www.infosekta.ch

Quelle: luzernerzeitung.ch | Christa Kamm-Sager