Lächelnd ziehen sie von Haus zu Haus und werben neue Jünger. Doch üben die Zeugen Jehovas Tugendterror und bespitzeln ihre Mitglieder. Der Sektenkonzern macht Milliardenumsätze. Jetzt will er in Deutschland offiziell als Kirche anerkannt werden, gleichgestellt mit Katholiken und Protestanten.

Das Kinderzimmer ist leer, die Regale sind ausgeräumt, die beiden Betten wurden seit Monaten nicht mehr benutzt. Nur eine neonbunte Schultasche liegt noch auf dem Boden.

Vor einiger Zeit waren die Brüder Alexander, 18, und Sorian, 15, in den Dunstkreis der Zeugen Jehovas geraten. In diesem Sommer, so beobachtete eine Bekannte in der Nachbarschaft, kam ein Abgesandter der Sekte mit seinem Mercedes und holte die beiden ab. „Sie sind mit dem ganzen Gepäck weg“, sagt der verlassene Vater Ljubomir Petkow, 38. Wo sie jetzt sind, weiß der Exil-Bulgare nicht.

Beim Jugendamt in Friedrichshafen fand Petkow, geschiedener Zahnarzt aus Überlingen, keine Hilfe. Der zuständige Sozialarbeiter Volkmar Blenn, 56, wollte sich nicht einmischen. Schließlich seien die Zeugen Jehovas eine „anerkannte Religionsgemeinschaft“.

Derartige Schicksale häufen sich. Die Sekte wirbt vermehrt um Entwurzelte und Randständige der deutschen Gesellschaft. In Asylbewerberheimen wird der Wachtturm, das Zentralorgan der Zeugen Jehovas, in der Muttersprache der Ankömmlinge durch den Zaun geschoben. In Aussiedlerunterkünften werden Insassen auf den Zimmern umworben.

Jetzt wollen die Zeugen Jehovas per Gerichtsentscheid die Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts erwirken; sie wären damit der evangelischen und katholischen Kirche gleichgestellt und könnten Kirchensteuern erheben, Seelsorger in Gefängnisse schicken und Vertreter in Rundfunkräte entsenden.

Weltweit bekennen sich 4,7 Millionen Menschen zu den Zeugen Jehovas, die Verkündiger der Sektenbotschaft sind in 231 Ländern aktiv – von Bolivien bis Bosnien-Herzegowina. In Deutschland zählen die Zeugen 166 500 Anhänger, davon 35 000 in den neuen Bundesländern. Vielen hilft der Glaube der Sekte. Labile finden Halt, Drogensüchtige werden entwöhnt. Die Religion der Zeugen verspricht „ewiges Leben im Paradies auf Erden“, ohne Hunger und Kriege, ohne Verbrechen. „Und selbst der Löwe wird Stroh fressen so wie der Stier“, zitiert eine Jehova-Schrift die Bibel (Jesaja 11:7).

Vorher droht allerdings der – terminlich nach mehreren Fehlschlägen nicht mehr exakt festgelegte – Weltuntergang („Harmagedon“). Den werden nur die überleben, die den Versuchungen des Satans widerstehen und den „Richtlinien und Gesetzen Gottes gehorchen“.
Das Berliner Verwaltungsgericht hat einen „Rechtsanspruch“ der Zeugen Jehovas auf Gleichstellung mit anderen Kirchen in Deutschland festgestellt. Der Berliner Senat legte jedoch Berufung beim Oberverwaltungsgericht ein. Die Zeugen Jehovas, begründet Senats-Justitiar Dietrich Reupke, 38, den Widerstand der Landesregierung, wiesen „Merkmale einer totalitären Sekte“ auf.

Ein internes Handbuch für Führungskräfte belegt, daß der Tugendterror in der weltweit operierenden Gemeinschaft tatsächlich bestens organisiert ist: Psychischer Druck, ein Spitzelsystem und ein ausgefeilter Strafenkatalog halten die „Herde“ beisammen. Die Mitglieder müssen sich strengen Regeln unterwerfen und werden rigoros überwacht.

Bis heute sind den Sektenmitgliedern unter Berufung auf die Bibel („Niemand unter euch darf Blut genießen“) Bluttransfusionen untersagt. Als im September 1993 in Neufundland und Kalifornien zwei Kinder, 12 und 15 Jahre alt, an Leukämie starben, weil sie Blutübertragungen verweigert hatten, pries das Sektenmagazin Erwachet die beiden als „Jugendliche, die Gott den Vorrang geben“. Zuletzt starben im September in Spanien zwei Kinder an Hirnhautentzündung und Leukämie, weil ihre Eltern Transfusionen verboten hatten.

Um die Sektenmoral zu sichern, lassen die Sektenführer kranke Mitglieder beaufsichtigen. Damit der todkranke Patient nicht im letzten Moment schwach oder gegen seinen Willen von Ärzten mit Blut versorgt werde, sei es in Einzelfällen „erforderlich, daß rund um die Uhr jemand Wache hält“, heißt es in einem Schulungsbuch für Sektenfunktionäre – Titel: „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“.

Das Brevier belegt die straffe Aufsicht über das gesamte Leben der Jehova-Jünger. An fünf Tagen pro Woche sollen sie an „Versammlungszusammenkünften“ teilnehmen, dazu kommen regelmäßige Kreis-Treffen, Bezirkskongresse und die Jehova-typische Akquisition neuer Anhänger, das „Jüngermachen“ an den Haustüren.

„Spornt die Brüder zu regelmäßiger, geplanter Tätigkeit im Evangelisierungswerk an“, fordert das Schulungsbuch. Fast 20 Stunden wöchentlich arbeitet der Durchschnitts-Zeuge im Sektendienst, oft neben dem bürgerlichen Beruf. Sogenannte Sonderpioniere arbeiten 117 Stunden im Monat.

Das Regelwerk bestimmt, gestrenger noch als jeder katholische Sündenkatalog zur Sexualmoral, wie sich die Brüder und Schwestern im Bett zu benehmen haben. _(* Beim Druck der russischen ) _(Wachtturm-Ausgabe. ) Als „zügelloser Wandel“ strafbar ist etwa „vorsätzliches und gewohnheitsmäßiges leidenschaftliches Petting sowie vorsätzliches und gewohnheitsmäßiges Streicheln der Brüste“.

Schlimmer noch sei „Hurerei“, wozu nach Zeugen-Regeln „Homosexualität und Lesbianismus“ zählen, aber auch „oraler und analer Geschlechtsverkehr oder gegenseitige Masturbation unter Personen, die nicht miteinander verheiratet sind“.

Geburtstagsfeiern sind gläubigen Zeugen genauso untersagt wie ein Flirt ohne Heiratsabsicht oder das Ausfüllen eines Lottoscheins. Sporttreiben ist verpönt, ein Hochschulstudium gilt zumeist als Zeitvergeudung. Neue Mitglieder sind, so das Führer-Handbuch, besonders zu umsorgen: „Dadurch wird das Vakuum ausgefüllt, das entsteht, wenn sie frühere Bekanntschaften und weltliche Unterhaltung aufgeben.“

Fehltritte verfolgen die Sektenoberen in einem eigenen „Rechtsverfahren“. Ein Norweger, 102 Jahre alt, wurde ausgeschlossen, weil er beim Genuß von Schnupftabak erwischt worden war. Der Pop-Sänger Michael Jackson zog, so seine Schwester La Toya, als Sektenmitglied, getarnt mit aufblasbarem Gummianzug, der ihn dicker aussehen ließ, durch Los Angeles und verteilte den Wachtturm. Trotz dieses Eifers mußte er Abbitte leisten wegen satanistischer Anklänge in seinem Video-Clip „Thriller“ („Ich würde so etwas nie wieder tun“). 1987 trat er aus.

Beim Prozeß vor dem sogenannten Rechtskomitee dürfen dem Beschuldigten laut Sektenanweisung „keinerlei Briefe gesandt werden“, die ihn zuvor über den Tatvorwurf ins Bild setzen. Während der Verhandlung sind „keinerlei Tonbandaufnahmen“ zulässig. Auch „Beobachter“ dürfen „nicht zugegen sein“.

Missetätern droht „Zurechtweisung vor den Augen aller“ oder, schlimmer, „Gemeinschaftsentzug“. Die Folge solchen Gruppenzwangs ist, so wollen Psychiater in Schweden, in der Schweiz und den USA herausgefunden haben, daß Zeugen Jehovas überdurchschnittlich oft psychisch erkranken. Typische Diagnosen: Depression und Verfolgungswahn. Schizophrenie komme bei den Sektenanhängern, so eine australische Studie, dreimal so häufig vor wie unter Ungläubigen.
Der norwegische Ex-Funktionär Joseph Wilting, 62, behauptet, daß in vielen Gemeinden in seiner Heimat 40 bis 50 Prozent aller Zeugen Jehovas Neuroleptika oder Anti-Depressiva nehmen. Eine wachsende Zahl von Selbstmorden konstatiert eine Studie des US-Psychologen Jerry R. Bergman.

Um die Gläubigen trotz seelischer Nöte bei der Stange zu halten, kontrolliert ein weltweites Aufsichtssystem das Privatleben der Mitglieder. Ärzte, Krankenschwestern, Rechtsanwälte müssen gemäß internen Sektenrichtlinien („Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“) ihre Schweigepflicht brechen und ernste Sünden melden, Kinder ihre Eltern denunzieren. „Die haben überall ihre Spione“, sagt ein Aussteiger.

Sünden von Jüngern werden protokolliert, Erkenntnisse über Abtrünnige gespeichert und bei Bedarf an die Weltzentrale der Sekte in New York übermittelt. Die „Leitende Körperschaft“, im New Yorker Stadtteil Brooklyn ansässig, steuert die weltweite Überwachung. „Selbst wenn ein Sünder sich im brasilianischen Urwald verstecken würde, wäre er für den internationalen Apparat der Gesellschaft nicht verschwunden“, sagt ein Aufseher.

Die Zentrale der Zeugen in New York betreibt einen immensen Aufwand: 30 Hochhäuser gehören zur Schaltstelle der Religionsgemeinschaft, außerdem Hotels, eine gigantische Computeranlage sowie eine sekteneigene Farm mit 688 Hektar Land.
Als Machtzentrum des 1881 gegründeten Konzerns gilt die Firma Watchtower Bible and Tract Society of Pennsylvania. Der Watchtower Bible and Tract Society of New York Inc., einer Aktiengesellschaft, gehört das Vermögen. Die Bank Watchtower Treasures steuert die Finanzströme, ein Großteil der Spenden geht an die International Bible Students Association, die Firma Watchtower Properties verwaltet die Immobilien.

Insgesamt setzt der Bibel-Konzern nach Schätzungen verschiedener Sektenkenner jährlich weltweit etwa vier Milliarden Mark um. Die Bilanzen sind geheim. Nur eine Zahl wurde dieses Jahr bekanntgegeben: 48 857 112,38 Dollar (84 Millionen Mark) gab die Watchtower Society 1993 für ihre reisenden Vollzeit-Prediger aus.

Offiziell speist sich die Sekte einzig aus Spenden („Gott liebt einen fröhlichen Geber“). Doch einiges kommt auch durch profane Geschäfte herein: Das eigens entwickelte Computerprogramm Meps, das es erlaubt, den Wachtturm simultan in 66 Sprachen zu setzen, wurde an IBM verkauft. In Kanada mehrten millionenschwere Investment-Erträge das Sektenvermögen.

Geschickt nutzt der Konzern sein weltweites Filialnetz für Finanztransfers: Die frommen Brüder treten, wie Tenniscracks und Formel-1-Piloten, als Steuerflüchtlinge auf – allerdings jonglieren sie mit ungleich höheren Summen.

So gelang es in der Schweiz letztes Jahr, den Gewinn mit null Franken zu deklarieren. Dort gelten die Zeugen Jehovas als steuerpflichtiger Kommerzbetrieb mit einem Kapital von 10,37 Millionen Franken. In Luxemburg hingegen lag der – dort steuerfreie – Gewinn letztes Jahr bei 6,1 Millionen Francs (300 000 Mark), trotz üppiger Überweisungen nach Brooklyn.

Die einfachen Jehova-Gläubigen machen sich beim weltweiten Geschäft vor allem als schlechtbezahlte Werktätige nützlich. In der Deutschlandzentrale der Wachtturm-Gesellschaft im hessischen Selters beispielsweise wird jeder der rund 1000 Beschäftigten gerade mal mit 100 Mark Taschengeld im Monat abgespeist.

Den Wert des Anwesens schätzen Experten auf 150 Millionen Mark: Die weitläufige Anlage erstreckt sich über rund 30 Hektar, mit Teichen und Springbrunnen. Eine Druckerei produziert _(* Im schleswig-holsteinischen ) _(Trappenkamp bei Neumünster. ) dort pro Jahr 96 Millionen Zeitschriftenexemplare für 58 Länder von Tahiti bis Tadschikistan, von Grönland bis zum Kongo. 15 000 Ferienhelfer haben die protzige Sektenzentrale gebaut – ehrenamtlich. Der Betrieb braucht weder Steuern noch Sozialabgaben zu zahlen, auch keine Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung.

Der Berliner Senat will die Wachtturm-Gesellschaft nicht als Kirche anerkennen, weil sie sich „regelmäßig und vorsätzlich über geltendes Recht hinweggesetzt hat“. Die Zeugen hätten jahrzehntelang gegen die Sozialversicherungspflicht verstoßen – ausgeschiedene Mitarbeiter standen im Alter plötzlich ohne Rentenanspruch da.

In Ungarn verweigerte die Regierung im vergangenen Jahr den Zeugen jede finanzielle Unterstützung, weil die Sekte als „destruktiv“ gilt. In Frankreich untersagte der Staatsrat eine Adoption durch Zeugen Jehovas, weil das Leben des Kindes gefährdet sei, sollte bei einer Operation eine Bluttransfusion nötig werden.

Auch deutsche Gerichte entscheiden immer häufiger gegen die Zeugen. Im Mai hat das Amtsgericht Hagen einer Jehova-Mutter das Sorgerecht für ihren vierjährigen Sohn entzogen.

Das Amtsgericht Passau entschied letzten Dezember, eine Mutter habe „grob gegen die Erziehungspflicht verstoßen“, weil sie ihren heute siebenjährigen Sohn eingedenk der Sektenmaximen („Gott züchtigt seine Söhne“) mit einem Kochlöffel „wiederholt schwer mißhandelt“ und durch Zwangsunterricht mit Zeugen-Ideologie malträtiert habe. Dem Jungen, befanden die Richter, drohe „lebenslanger Dauerschaden“, wenn er unter der Fuchtel seiner Mutter bleibe.

Die Beschäftigten der Sekte werden mit Taschengeld abgespeist

Quelle: spiegel.de