Der Philadelphia Inquirer ist eine der großen Tageszeitungen für den Bundesstaat Pennsylvania, mit einer Auflage von fast 1 Million Exemplaren. In der Ausgabe vom 29. April 2018, erschien mit der Titelseite, eine vierseitige Berichterstattung über den mit Jehovas Zeugen verbundenen Kindesmissbrauch:

Silent Witnesses (Stille Zeugen)

Eine Sekunde war alles was es brauchte. Eine Sekunde, mehr brauchte er nicht.

Das kleine Mädchen war 4 Jahre alt, pausbackig mit Sommersprossen und trug ihr schönstes Kleid. Zappelnd saß sie neben ihrem Vater im Königreichssaal der Jehovas Zeugen, in Red Lion, York County – ein sicherer, vertrauenswürdiger Ort für Familien, die fast ihre gesamte Freizeit mit predigen und beten verbrachten. Momentan war Martin Haugh damit beschäftigt, die Aufgaben an seine Brüder zu verteilen, damit diese in den Haus-zu-Haus-Dienst gehen könnten. Als er sich nach seiner Tochter umsah, war diese verschwunden. In Martin kam Panik auf, der Albtraum aller Eltern.

Er durchsuchte das einstöckige Backsteingebäude, rief laut den Namen seiner Tochter. Die aufkommende Angst, lähmte seine Atmung. Sie war nicht in den Toiletten und auch nicht in der Lobby. Er durchsuchte die Garderobe, wo er sie fand. Aber, sie war nicht alleine. Martins Tochter saß auf dem Schoss eines Teenagers, der sie von der Gruppe weggelockt hatte und sie missbrauchte. «Er wollte mir eine besondere Umarmung geben», erzählte das kleine Mädchen ihrem Vater.

Die englische Sprache kann den Horror der Gefühlswelt einer solchen Entdeckung nicht angemessen ausdrücken, den Eltern empfinden, wenn sie entdecken, dass ihre unschuldige, kleine Tochter missbraucht wurde. Als Martin und seine Frau Jennifer den Ältesten der Versammlung über den Missbrauch berichteten, wurden sie mit gedämpfter Besorgnis empfangen. Und dann kamen die Drohungen.

«Uns wurde mehr als nur einmal gesagt, wenn wir anderen Eltern von dem Vorfall berichten, müssten wir mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen.», sagte Hugh, 41 Jahre alt, in einem kürzlich durchgeführten Interview. Wir hörten nie «Wendet euch an die Polizei» oder «Ihr solltet über eine Therapie für euer kleines Mädchen nachdenken», ergänzt seine Frau. «Auf einmal sprach keiner unserer Brüder mehr mit uns.».

Familie Haugh waren tief in das Geflecht der Zeugen Jehovas verstrickt. Martin war Zeuge in 5. Generation – aber dieses, war es das erste Mal, dass er mit der Mauer des Schweigens in Berührung kam, die die Führer seiner Religionsorganisation aufgebaut haben, um Beschuldigungen über sexuellen Missbrauch und möglichen gesetzlich juristischen Sanktionen zu entgehen.

Interne Dokumente zeigen, die seit Jahrzehnten aufgebaute Geheimhaltungspolitik, durch die Führung der Wachtturm Bibel und Traktat Gesellschaft von New York. «Die Notwendigkeit für Älteste solche Angelegenheiten streng vertraulich zu behandeln, wurde wiederholt betont» ist in einem Memo aus 1989 zu lesen, in dem Älteste instruiert wurden, jede Zusammenarbeit mit der Polizei strikt abzulehnen, wenn diese mit einem Durchsuchungsbefehl im Königreichssaal auftauchen würde.

Ein anderes Memo, von 1997, fokussierte sich speziell auf Kindesmissbrauch. Älteste, das Äquivalent eines Pfarrers, wurden aufgefordert, die Ältestenschaft der neuen Gemeinde über die Vorwürfe zu unterrichten, falls ein Pädophiler von einer in eine andere Gemeinde wechselt. Die Gemeindemitglieder außerhalb der Ältestenschaft, sollten allerdings nicht über die Vorwürfe unterrichtet werden.

Dank einer immer grösser werdenden Anzahl von Klagen vor Gericht, Untersuchungen durch die Strafverfolgungsbehörden und Whistle-Blowern, kamen diese Monster mehr ins Scheinwerferlicht. Ein U.S. Gerichtshof aus Kalifornien, verurteilte die Organisation der Zeugen Jehovas zu einer Geldstrafe von mehr als 2 Millionen U.S. $, weil diese sich weigerten, eine Liste mit Namen von bekannten Pädophilen, den Behörden zu übergeben. In Kanada wird aktuell eine 66 Millionen $ grosse Sammelklage angestrebt und die Royal Commission of Australia, konnte mehr als 1’000 Täter in den Reihen der Mitglieder, der Zeugen Jehovas in Australien, identifizieren.

Immer wieder verweigern die Offiziellen der WTG Interviews zum Thema und entschlossen sich, eine Erklärung mit folgendem Wortlaut abzugeben: «Jehovas Zeugen verabscheuen Kindesmissbrauch, ein Verbrechen, dass leider in allen Gesellschaftsschichten vorkommt. Die Sicherheit unserer Kinder, steht für uns an erster Stelle.». Die Missbrauchsanschuldigungen sind nur ein kleines Stück eines komplizierten Großen-und-Ganzen, dessen Ursprung in den internen Prozessen der Organisation liegt, die aus bescheidenen Anfängen in Pittsburgh, zu einer weltweit agierenden Organisation, mit 8 Millionen Mitgliedern heranwuchs. Allein in Philadelphia gibt es dutzende von Versammlungen und in New York haben sie ein milliardenschweres Immobilien-Imperium aufgebaut und an ein Unternehmen verkauft, das früher von Präsident Trumps Schwiegersohn, Jared Kushner, geführt wurde.

Ich sprach mit 14 ehemaligen Zeugen, im Alter von 19 bis 77 Jahren, über ihre Erfahrungen und was sie veranlasste diese Organisation zu verlassen. Einen Prozess, den sie als «Aufwachen» bezeichnen. Einige sind überlebende sexuellen Missbrauchs, andere können aus erster Hand berichten, wie hohe Funktionäre Beweise für Verbrechen vernichteten. Einige zerbrachen unter der Last, dass ehemalige Freunde und Familienmitglieder jeden Kontakt mit ihnen ablehnen – ein dogmatischer Lehrpunkt in der Glaubensausübung der Zeugen Jehovas. Mit einem solchen Verhalten würde sich ein Zeuge Jehovas retten, wenn Harmageddon kommt.

Der Preis den Zeugen Jehovas bezahlen, wenn sie über diese Dinge sprechen, ist sehr hoch. Zeugen werden intensiv dazu angehalten, jeglichen Kontakt, zu jeder Person abzubrechen, die sich nicht an die Regeln und Vorschriften hält, die von der «Leitenden Körperschaft» gelehrt werden. Eine emotionale Strafe, die als Ausschluss bezeichnet wird. Die Familie Haugh kennt diese Strafe sehr gut. Jennifer sagte: «Meine Schwiegereltern haben eine Totenfeier abgehalten» (? wtl. “held a wake”), als sie die Religion 2016 verliessen. «So, als ob wir tot wären».

Versprechen und Tücke

In einer unsicheren Welt, sehnen sich die Menschen nach Sicherheit. Wie heute, war das auch schon in den 1870’er Jahren, als ein charismatischer junger Mann von Allegheny County, Charles Taze Russel, die Bibel zu studieren begann und Mitglied einer Gruppe wurde, die sich Bibelforscher nannte.

Die USA hatten gerade den Bürgerkrieg hinter sich gelassen und grosse Teile des Landes wurden Mithilfe der ersten motorisierten Maschinen, der zweiten industriellen Revolution, wieder aufgebaut. Russel, der Inhaber mehrerer Bekleidungsläden war und kurzzeitig in Philadelphia lebte, bevorzugte die Lehren der Christen des ersten Jahrhunderts nach Christus, und glaubte daran, dass die Menschheit gerade in «die letzten Tage» eingetreten war. Er errechnete das Jahr 1914, als den Startzeitpunkt, für dieses Ende.

Gläubige und deren Familien jedoch, wären vor diesem Ende sicher und würden gerettet. Durch diese erleichternde Botschaft, gelang es ihnen, viele Konvertiten zu gewinnen. Darunter, 1890, auch die Eltern des früheren U.S. Präsidenten Eisenhower. (Eisenhower wurde Presbyterianer, nachdem er zum Präsident gewählt wurde). Als Russel 1916 starb, zersplitterte die Gruppe in verschiedene Teile. Aber einige blieben beim designierten Nachfolger, Joseph F. Rutherford und nahmen 1931 den Namen «Zeugen Jehovas» an. Rutherford erklärte erneut, dass das Ende sehr nahe wäre. Eine geschickte Taktik, die der Führung noch mehr Macht über die gab, die sich die Botschaft zu Herzen nahmen.

Mit der Angst der Menschen zu arbeiten, ist ein machtvolles Werkzeug in der Hand religiöser Führer. Rutherford führte neue Gebote ein. Den Zeugen wurde verboten, an Geburtstagen, Weihnachten und anderen religiös angehauchten Feiertagsanlässen teilzunehmen. Es war ihnen nicht erlaubt den Militärdienst zu absolvieren und sie durften von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen. Das Transfundieren von Blut, auch in absolut medizinischen Notfällen, wurde untersagt.

Aber diese neuen Regeln, wurden im Missionierungswerk der freundlichen, gut gekleideten, von Haus-zu-Haus an Türen klopfenden Menschen, natürlich nicht in den Vordergrund gestellt. Babara Anderson war ein Teenager aus Long Island, als sie 1954 mit Zeugen Jehovas die Bibel zu studieren begann. «Ich war ein neugieriges Kind und wollte Antworten auf die Frage: warum sind wir hier?» sagte Barbara, heute 77 Jahre alt, aus Tennessee. «Sie beantworteten alle meine Fragen».

Diese innere Ruhe – glauben, zu wissen, da draussen gibt es einen Plan für mich im grossen und unvorhersehbaren Universum – hilft vielen Zeugen beim Durchhalten, mit diesem herausfordernden Lebensstil. Kindern ist es nicht erlaubt, Mitglied in einem Sportverein zu werden oder mit anderen Kindern, ausserhalb der Zeugen Jehovas, zu spielen. Von Erwachsenen wird erwartet, jeden Monat mindestens 10 Stunden im Dienst von Haus-zu-Haus zu verbringen. Von einer weiterführenden oder gar universitären Ausbildung, wird ausdrücklich abgeraten. Besonders im Fall von Frauen.

Dennoch kommen aus den Reihen der Zeugen zahlreiche Promis. So waren viele Menschen aus Minnesota überrascht, als der Popstar Prince an ihre Türen klopfte, nachdem er im Jahr 2000 «bekehrt» wurde. Tennis Superstars Venus und Serena Williams, der Schauspieler Donald Glover und die Musikerin Patti Smith wuchsen in den Reihen der Zeugen auf. Michael Jackson verlies in den späten 80’ern die Zeugen, nachdem sich einige in den Führungsetagen der Zeugen Jehovas, über die leichenfressenden Untoten des Videos zu dem Song «Thriller», echauffierten.

Alleine in Pennsylvania gibt es mehr als 120’000 Zeugen und mindestens 7’775 praktizieren ihren Glauben in Philadelphia, gemäss einer Pew Studie aus dem Jahr 2014. Viele der Königreichssäle findet man im Norden und Westen von Philadelphia, die hauptsächlich von schwarzen Mitgliedern besucht werden. Über die gesamte USA hinweg, teilen sich die Mitglieder folgendermassen auf: 36% weisse, 27% schwarze und 32% latinostämmige.

In den Medien werden sie häufig als etwas verschroben dargestellt, als Menschen aus einem anderen Jahrhundert. Mehr als ein dutzend Geschichten wurden gedruckt, über die Menschen, die Sportstadien mit der Hand schrubben – das Temple University’s Liacouras Center eingeschlossen – bevor sie es für ihre Anbetungszwecke gebrauchen. «Insgesamt sind es nette und aufrichtige Menschen», berichtet Barbara Anderson über ihre ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern.

Aber sie hatte auch einen seltenen und vor allem tiefen Einblick in die Vorgehensweise, der von ihnen genannten «Leitenden Körperschaft» – eine Gruppe von 8 Männern die von sich behaupten, direkt von Gott instruiert und sein irdisches Sprachorgan zu sein. Barbara Andersons Mann war ein angesehener Funktionär und Ältester, in der weltweiten Zentralverwaltung in Brooklyn.

Barbara selbst war die einzige Frau, in der von Männern dominierten Hierarchie, und arbeitete im Schreibkomitee, für das von den Zeugen herausgegebene Magazin, «Erwachet!».

Im Jahr 1991 enthielt die Veröffentlichung einen interessanten Artikel über das Überleben sexuellen Missbrauchs, der viele ehemals missbrauchte Mitglieder veranlasste, sich schriftlich an die Zentralverwaltung zu wenden. Sie erklärten von Ältesten, anderen Mitgliedern, Familie oder Freunden missbraucht worden zu sein. «Es war schrecklich», sagte Barbara, die persönliche viele der Opfer anrief.

Im Anschluss fand sie heraus, die «Leitende Körperschaft» hatte bereits Protokolle eingeführt, wie mit Fällen von sexuellem Missbrauch zu verfahren sei. Die Ältesten wurden angewiesen, sich in einem solchen Fall an das Rechtskomitee der Zentralverwaltung zu wenden und die Informationen, in einem speziell dafür vorgesehenen blauen Briefumschlag, nach Brooklyn zu senden. Von den Opfern wurde verlangt, die Anschuldigungen in Anwesenheit des Täters vorzubringen und durch mindestens 2 Zeugen bestätigen zu lassen. Disziplinarische Massnahmen wurden ausschliesslich intern vorgenommen.

«Durch ihre Vorgehensweisen, haben sie, ohne es zu wollen, einen Schutz für pädophile Täter aufgebaut», berichtete Barbara Anderson.

John Reeder sah, wie sich diese Vorschriften auswirkten. Als ein Ältester in der Versammlung von Bradley Beach in Jersey Shore, nahm um das Jahr 2’000 an einer Besprechung teil, bei der es darum ging, dass ein Gemeindemitglied die Brüste der 12-jährigen Tochter, einer seiner Freunde, gestreichelt hatte.

«Wir beauftragten den Täter, ‘Du musst das mit dem Vater des Mädchens klären’», erzählt Herr Reeder, 59 Jahre, anlässlich eines kürzlich durchgeführten Interviews. «Wir befolgten die Regeln und Vorschriften der Rechtsabteilung. Ich glaube nicht, dass wir jemals mit dem Vater des Mädchens gesprochen haben».

Doch es kam zu Problemen: Alle Kleriker in New Jersey sind gesetzlich verpflichtet, Fälle von Kindesmissbrauch zu melden. Herr Reeder erzählt, wie die Rechtsabteilung ihm erklärte, wie er anonym die Behörden informieren sollte. «Sie rieten uns, jemand in eine fremde Stadt zu senden und den Anruf von einer öffentlichen Telefonzelle aus zu machen. Das betrachteten sie als die Erfüllung der rechtlichen Vorschriften. Ich sagte: «Das ist doch lächerlich! Sollen wir auch noch einen Trenchcoat tragen?».

In 2004 kam für Herrn Reeder der Punkt, an dem er es nicht mehr weiter ertragen konnte. Andere Älteste seiner Versammlung wollten die Tochter von Herrn Reeder aus der Gemeinde ausschliessen, weil diese sich nicht an die Regeln gehalten habe. Man versuchte sogar ihn dazu zu zwingen, jeden Kontakt mit seiner eigenen Tochter abzubrechen. Diese Erfahrung, so berichtet er, hat seine Tochter traumatisiert.

Zwischenzeitlich beschloss Barbara Anderson an die Öffentlichkeit zu gehen und trat sogar in der NBC Sendung ‘Dateline’ auf und berichtete über die Zusammenhänge rund um den Kindesmissbrauch. Sie und ihr Ehemann wurden aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas verbannt. «Ich hatte wirklich genug», so Barbara. «Ich dachte: ‘Was für Leute sind das? Wie könnt ihr Gottes Organisation sein?’».

Der Schaden ist angerichtet

Als das Licht des iPads anging, erschien Sarah Brooks im FaceTime Fenster. Es war ein regnerischer Februar und die 30-järige sass in ihrer Einfahrt in York und versuchte sich selbst die Misshandlungen während ihrer Jugend zu erklären. Alles begann im Jahr 2004, als sie 14 Jahre alt war. 2 Zeugen, die ihr sehr nahe standen – Joshua Caldwell, ein Familien Freund und Jnnifer McVey, ihre 10 Jahre ältere Stiefschwester, begannen Sarah mit Wein und Bier abzufüllen. Ein Jahr später gingen sie weiter.

Sarah arbeitete zusammen mit Caldwell und räumte Häuser auf, um sie winterfest zu machen. McVey war als eine Art Aufpasserin dabei. «Während der Arbeit, in diesen verlassenen Häusern, begann er schliesslich mich zu missbrauchen», berichtet Sarah.

Über 2 Jahre missbrauchten die beiden 20-jährigen, Sarah. «Ich verstand nicht was da passierte». Schliesslich hatte sie den Mut, alles ihrem Vater zu erzählen. «Er rief die Ältesten unserer Versammlung, die aber mit einem der Täter verwandt waren. Sie kamen zu uns und befragten mich. Anschliessend wurde ich auf mein Zimmer geschickt». Von da an wurde die Sache für sie schlimmer. Die Ältesten ihrer Versammlung hielten eine öffentliche Ansprache im Königreichssal, vor der gesamten Gemeinde, dass Sarah eine Zurechtweisung nötig gehabt hätte, aber Reue gezeigt hätte.

«Das bedeutet, dass ich etwas verkehrt gemacht habe, aber meinen Fehler bereuen würde», so Sarah. «Ausserdem bedeutet es, dass ich schlechter Umgang bin und die Brüder mich meiden würden». Sarah wurde für die anderen Menschen in ihrer Gemeinde wie ein wandelnder Geist. Sogar von ihren besten Freunden wurde sie ignoriert. «Ich hatte überhaupt kein soziales Leben mehr. Niemand war auf meiner Seite». Sie versuchte mit der Situation zurecht zu kommen, indem sie sich mit 3 Jobs beschäftigte. Aber auch damit ging der Schmerz nicht weg. Ihre Angst führte schliesslich zu einer Essstörung.

Irgendwann entschloss sie sich und informierte die Polizei über den Missbrauch. Dort sagte man ihr allerdings, nichts für sie tun zu können. Weitere 8 Jahre später wandte sie sich an eine andere Behörde und fand endlich Gehör. Ihre beiden Peiniger wurden 2013 festgenommen und wegen Missbrauch schutzbedürftiger verurteilt.

«Das war das beste Gefühl der Welt», erzählt Sarah, während ihr die Tränen übers Gesicht laufen. «Das machte die 2 Jahre der Hölle auf Erden wieder wett». Bis heute leidet sie dennoch unter dieser Erfahrung. Jeder rote Ford Pickup erinnert sie an den Missbrauch. Bestimmte Gesten, lösen Erinnerungen aus. «Ich muss dann immer daran denken, was er mit meinen Beinen gemacht hat»

Ihre Eltern waren entsetzt über ihre Entscheidung, sich an die Öffentlichkeit zu wenden und distanzierten sich ebenfalls von ihr. Aber sie fand Trost bei einer anderen ehemaligen Zeugin. Wie Martin und Jennifer Haugh, zog auch sie Stärke daraus, zu erfahren, dass es anderen ähnlich ergangen war, wie ihr. Dass auch andere, diesen schrecklichen Missbrauch ertragen und überstanden hatten.

Viele Opfer verbinden sich über Social Media’s. Mehr als 20’000 Mitglieder hat ein Reddit-Forum, welches sich ausschliesslich an Ex-Zeugen wendet. Auch auf YouTube findet man viele Videos ehemaliger Zeugen und die absurden Erfahrungen, die diese durchleben mussten. Die Tochter der Haughs ist mittlerweile 16 Jahre alt. Die beiden Eltern hoffen, dass sie ihren Weg gefunden hat, mit dieser Erfahrung zurecht zu kommen. Der Täter wurde mittlerweile rechtskräftig verurteilt.

Für die Haughs waren Erfahrungen dieser Art einfach undenkbar, als sie noch aktive Mitglieder waren. Martin erinnert sich daran, wie einige Älteste ihm sagten, er könnte die Polizei durchaus kontaktieren, aber warnten ihn allerdings: «Das würde Schande und Schmach auf den Namen Jehovas bringen». Von Seiten der Gemeinde erhielt der Täter eine disziplinarische Massnahme: für 8 Monate, war es ihm nicht erlaubt, am Haus-zu-Haus-Dienst teilnehmen zu dürfen. Wahrscheinlich sind die Haughs nicht die einzigen Mitglieder der örtlichen Gemeinde, die sich mit dem Missbrauch von Kindern beschäftigen müssen. «Wir wissen von mindestens 8 weiteren Kinderschändern, vor Ort», sagte Jennifer Haugh.

Einige Frauen berichten, durch ihren Ehemann vergewaltigt worden zu sein. «Dir wird beigebracht, als Frau hast Du keine Macht und niemand tritt für Deine Rechte ein». Die Tatsache, dass diese Probleme so häufig vorkommen und in aller Munde sind, wirft die Frage auf: Warum sprechen nicht mehr Menschen darüber? Die Antwort könnte darin liegen, was für die Betroffenen auf dem Spiel steht! Zeugen haben nur wenig Kontakt mit Menschen ausserhalb ihrer Religionsgemeinschaft. Und das Risiko auf sich zu nehmen, aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, ist für viele nicht tragbar. (Im Februar beging eine Frau Selbstmord, nachdem sie ihren Mann und ihre beiden Söhne tötete. Sie waren Ex-Zeugen Jehovas und der Ausschluss wurde als ein mögliches Motiv herangezogen).

«Ich habe das Gefühl, viele Jahre in Folie eingewickelt gelebt zu haben. Dir ist nicht erlaubt über deine Probleme zu sprechen», berichtet Martin Haugh. Die Zeugen erwarten, die einzigen Menschen zu sein, die gerettet werden, wenn Gott das Ende über die Erde bringt. Die Möglichkeit kein Teil der Organisation mehr zu sein und deshalb in Harmageddon zu sterben, ist für sie ein triftiger Grund, jegliche Rebellion gegen die Vorschriften zu vermeiden. Sogar in einer Situation, bei der es um Leben und Tod geht, wie im Falle von Terri Seels-Davila.

Die 39-jährige, in Philadelphia geborene, war sogar einmal für die Zeugen auf Missionsreise in Nicaragua. Terri ging in Philadelphia ins Krankenhaus, um dort ihr Kind auf die Welt zu bringen. Nach einigen Stunden sank ihr Blutdruck soweit, dass sie als Notfall eingestuft wurde. Die Ärzte fanden schwere innere Blutungen. Wiederholt bat sie ihre Familie, doch einer Bluttransfusion zuzustimmen. Laut den Akten des Gerichts, waren ihre Eltern und ihr Ehemann, ebenfalls Zeugen Jehovas und verweigerten jede lebensrettende Bluttransfusion. Sollte sie sterben, wäre es Gottes Wille, sagten die Angehörigen den Ärzten. Einige Tage später starb sie.

Ausweichmanöver

Stephanie Fessler verklagte die Watchtower Bible and Tract Society, 2013 vor Gericht. Die Geschehnisse ihrer Jugend ist ein weiterer Beweis, wie perfide das offizielle Vorgehen der Zeugen ist um Aufmerksamkeit wegen Kindesmissbrauch zu vermeiden. Eine 50-jährige Frau, namens Terry Monheim, begann Stephanie im Jahr 2003 zu missbrauchen, als diese erst 13 Jahre alt war. Monheim war die Mutter einer Freundin und hatte damit leicht Zugang zu dem Mädchen.

Der gerichtlichen Klage folgend, ging der Missbrauch von Küssen, bis hin zur Penetration, in bis zu 40 Fällen. Als Stephanies Eltern herausfanden was mit ihrer Tochter geschieht, alarmierten sie die Ältesten in Spring Grove, York County. Auch hier gab es wieder Probleme, obwohl der Fall vollkommen klar war. Das Gesetz des US Staates Pennsylvania, verlangt für Kindesmissbrauch, eine Anzeige bei der Polizei. Aber anstatt ihrer Verpflichtung nachzukommen, hielten die Ältesten alles geheim und intern. Und wie Sarah Brooks, wurde auch Stephanie Fessler, öffentlich und vor anderen Zeugen Jehovas zurechtgewiesen und verleumdet.

Jahre später entschloss sich Stephanie dazu, ihren Fall vor Gericht zu bringen. Monheim wurde festgenommen und inhaftiert. Aber die Untersuchungsbeamten erhielten keine Kooperation durch die Ältesten der lokalen Gemeinde und der Führung der Zeugen Jehovas. Die Polizistin Lisa Layden, von der zuständigen Polizeibehörde, ging bewaffnet und mit Durchsuchungsbefehl zum Königreichssaal und verlangte die Herausgabe aller Unterlagen, über Monheim und Kindesmissbrauch. Dabei erfuhr sie den Widerstand, der lokalen Verantwortlichen, wie es in dem Memo der Watchtower Bible and Tract Society, von 1989, gefordert wurde.

«Sie händigten mir keine Unterlagen aus», sagte die Polizistin. Ihr wurde mitgeteilt, die diese befänden sich gegenwärtig im Hauptbüro der Zeugen Jehovas, in Brooklyn. Sie verliess den Königreichssaal mit der Aufforderung, sie zu informieren, wenn die benötigten Unterlagen wieder verfügbar wären.

«Der Anwalt der Zeugen Jehovas schrieb, dass ich kein Recht hätte, die Unterlagen einzufordern oder zu erhalten», so die Polizistin. «Ich ermittle nun seit 22 Jahren in Fällen von Missbrauch. Manchmal rücken die Organisationen keine Unterlagen heraus. Aber hier dachte ich mir: ‘Warum sollten die Zeugen so handeln?’.

Ihre Bemühungen waren jedoch nicht nutzlos. Die Täterin wurde schuldig gesprochen und verbüsst gegenwärtig ihre Strafe. Die Vertreter der Watchtower Bible und Tract Society verweigern jede Bitte, über den Fall Stephanie Fessler oder jeden anderen, in diesem Bericht erwähnten, zu sprechen. *Die Versammlungsältesten erfüllen alle gesetzlichen Vorschriften, in Fällen von Kindesmissbrauch», ist in der Mail eines offiziellen Sprechers der Organisation zu lesen. In seiner Nachricht sind einige Links zu finden, die auf Artikel verweisen, die Zeugen Jehovas zum Thema Kindesmissbrauch publiziert haben.

Der Rechtsanwalt Jeffrey Fritz, der die Zeugen im Fall von Stephanie Fessler verklagte, machte sich über die Rückmeldungen aus der Weltzentrale der Zeugen Jehovas, zum Fall Stephanie Fessler, lustig: «Ihnen geht ihre Reputation über die Sicherheit von Kindern. Sie zitieren sich selbst, immer und immer wieder, und das auf der ganzen Erde».

Die Organisation der Zeugen Jehovas einigte sich mit Stephanie Fessler aussergerichtlich, jedoch mit der Auflage, für Fessler und ihren Rechtsanwalt, über den Inhalt der Einigung absolutes Stillschweigen zu bewahren. Der Anwalt vertritt nun Sarah Brook und plant diese Klage, im Laufe des Jahres 2018 einzureichen.

Auf dem Weg

Die Klagen kommen jedem bekannt vor, der sich mit dem Skandal rund um die Anschuldigungen Geistlicher der katholischen Kirche beschäftigt hat, die um das Jahr 2’000 herum erhoben wurden. Die Tragweite der Anschuldigungen werden ständig bagatellisiert und die religiösen Führer tun alles in ihrer Macht stehende, damit die Öffentlichkeit nichts über das Ausmass erfährt, das unter der Oberfläche brodelt. Einen kleinen Einblick erhält man nur bei Verhandlungen vor Gericht oder durch geleakte, geheime Dokumente.

2012, reichte ein Mann namens Jose Lopez, aus San Diego, eine Klage gegen die Watchtower Bible and Tract Society ein. Er beklagte, durch den ehemaligen Ältesten, Gonzalo Campos, in den 80’ern und 90’ ern, wiederholt missbraucht worden zu sein.

Der Anwalt von Herrn Lopez verlangte, von der Organisation der Zeugen, eine Liste von Tätern, die von den Beklagten seit 1997 geführt wurde. Als die WTG die Aushändigung ablehnte, veranlasste der Richter eine Strafe von täglich 4’000.—US$, bis zur Herausgabe der Liste. Trotz der Strafe, wurden die geforderten Dokumente nie herausgegeben und der Fall, im März 2018, aussergerichtlich beigelegt.

«Wir haben es mit einer stark patriarchalen Struktur zu tun, die sehr gut von oben nach unten durchorganisiert ist, um mit allen Massnahmen zu verhindern, dass die Öffentlichkeit jedwedes Fehlverhalten erkennen kann», äusserte sich Marci Hamilton, die Gründerin von CHILD USA, einer nonprofit Organisation zur Beendigung von Kindesmissbrauch.

«Ihre ganze Hingabe dient der Erhaltung ihrer Macht, der Erhaltung ihres guten Images und die Mitglieder, so isoliert wie möglich, vom Rest der Menschheit abzugrenzen. Deshalb ist der prozentuale Anteil von Fällen von  Kindesmissbrauch viel höher, als im Rest der Kultur» gemäss Marci Hamilton von CHILD USA.

Die Regierung von Gross-Britannien diskutiert aktuell eine formelle Ermittlung gegen Zeugen Jehovas zu starten, als Reaktion auf die kürzlich publizierten Anschuldigungen zum Thema Kindesmissbrauch. 2017 hat der oberste Gerichtshof von Russland, die Organisation der Zeugen Jehovas, für extremistisch erklärt und verboten. Dies wurde vom U.S. State Department stark kritisiert.

Die Tatsache, dass der Gesetzgeber der USA, keine Untersuchungen der Praktiken von Zeugen Jehovas eingeleitet hat, ist keine Überraschung. «Es gibt ein grosses Problem: religiösen Führern wird zu viel Ehrerbietung geschenkt, selbst wenn diese die Ehre eindeutig nicht verdienen», beklagt Hamilton. Der zu zahlende Preis, Klagen aussergerichtlich beizulegen, fängt an zu steigen. Aber die Kriegskasse der Zeugen scheint gut ausgestattet zu sein, um auch weiterhin so zu verfahren. Die Kosten für die Errichtung und die Erhaltung der Königreichssäle, zahlen die Mitglieder und nicht die besitzende Organisation. Älteste und andere Diener werden für die geleistete Arbeit nicht entschädigt.

Dann gibt es noch das gewaltige Kissen der Sicherheit durch ihren Immobilienbesitz. Die Zeugen besassen alleine in New York 30 Gebäude. Zwischen 2013 und 2016, verkauften sie 3 ihrer grössten Immobilienbesitztümer, darunter die langjährige Weltzentrale, an Kushner Cos. LLC und ein Konsortium anderer Investoren, für mehr als 1 Milliarde US$.

Es ist nicht klar, ob Kushner, der damalige CEO oder ein anderes Geschäftsleitungsmitglied der Investoren sich bewusst waren, welche Anschuldigungen gegen die Zeugen im Raum standen, als sie diesen hohen Preis bezahlten. Ein Sprecher der Kushner Cos. lehnte eine Stellungnahme ab, mit der Begründung, dass keine Verbindung zwischen Kushner und der WTG erkennbar wären.

In einem von Zeugen Jehovas produzierten Video, tritt Kushner sogar auf. Dieses Video ist seit 2017 auf YouTube zu finden. «Ich würde behaupten, dass alle Personen mit denen ich verhandelt habe, sehr integer sind», erzählt Kushner dem Interviewer. «Den Zeugen bedeutet ein Handschlag noch etwas. Es ist deutlich einfacher mit einer Organisation zu arbeiten, wenn man ihnen Vertrauen schenken kann». Die Zeugen verlegten ihre Weltzentrale auf ein ca. 1.6 Millionen Quadratmeter grosses Grundstück, in Tuxedo Park, ausserhalb von New York.

Im Februar 2018 fuhr ich zu diesem riesigen Besitz. Weitläufige, hochmoderne Büros, hunderte von Apartments und ein moderner Verkehrsverteiler, liegen an einer ruhigen, kurvigen Strasse. Dutzende ordentlich gekleideter Besucher unternahmen eine Besichtigungstour, die durch die Geschichte der Religion, zurück zu Chalres Taze Russel und seinen frühen Jahren in Pittsburg, führt.

Mitarbeiter grüssen mit einem sehr breiten Lächeln und erklären mit viel Geduld, wie man die Headsets benutzt, um den Audiokommentar zur Ausstellung hören zu können. Alte Bibeln, eine originale Erstausgabe des ersten Wachtturms und andere Ausstellungsstücke werden mit grosser Erzählkunst vorgestellt.

Viel Platz wird einer Ausstellung eingeräumt, die sich mit dem Widerstand beschäftigt, welchem die Zeugen ausgesetzt waren, als sie begannen ihre Botschaft in die Welt hinaus zu tragen. Aber nichts deutet auf die kontroversen Angelegenheiten dieser Organisation hin – die ausgebliebenen wiederholten Weltuntergangsvoraussagen, die Grausamkeit des Ausschlusses von Mitgliedern und die wachsende Häufigkeit der Anschuldigungen über Kindesmissbrauch.

Dann entdeckte ich etwas: sonnengold leuchtend, gerade auf Augenhöhe, hängt ein Schild an der Wand, mit der Aufschrift: Jehova kümmert sich um Kinder.

«Die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas hat in den letzten Jahren, Kindern immer mehr Beachtung zukommen lassen», steht auf einer Ecke des Schildes. «Die tiefe Sorge für das Wohlergehen dieser wertvollen Geschenke in unserer Mitte, wird gezeigt durch die Quantität und Qualität der Hilfe, die zur Verfügung gestellt wird».

Kinder schleichen durch die Ausstellung und begeistert flüstern sie ihren Eltern Fragen zu. Es war ein bittersüsser Moment: die Unschuld dieser Kleinsten, kollidiert mit der unausgesprochenen Erinnerung, dass die Organisation der Zeugen Jehovas, wie viele andere Religionen, es versäumt haben, die Schutzbedürftigsten, vor den Wölfen zu bewahren.

Ganz in der Nähe finde ich zwei lebensgrosse, kindliche Kunststofffiguren, mit Bibeln in ihren kleinen Plastikhänden. Und davor ein Schild, mit den Worten: Bitte nicht berühren.

Quelle: philly.com