Die renommierte Schweizer Zeitschrift “ Beobachter“ blickt unvoreingenommen hinter die Fassade der Zeugen Jehovas und lässt einen Aussteiger zu Wort kommen. Interessant ist die Aussage der Pressestelle in Selters. Mir kommt es vor, als wisse die linke Hand nicht was die Rechte gerade so tut. Ist es wirklich so schwer, Aussagen der aktuellen Literatur geistig präsent zu haben? Wie ist es zu erklären, dass die Pressestelle folgendes übersehen hat?

Auszug aus dem Buch „Bewahrt euch in Gottes Liebe“ Seite 207 Veröffentlicht 2008: „Wer Jehova treu sein möchte, sucht nicht nach Vorwänden für Kontakte mit einem ausgeschlossenen Verwandten, der eine eigene Wohnung hat. Aus Herzenstreue gegenüber Jehova und seiner Organisation wird er die biblische Regelung des Gemeinschaftsentzugs nicht unterlaufen.

Über 20 Jahre lang war Rino Zumerle bei den Zeugen Jehovas. Schliesslich stieg er aus – und verlor Frau und Freunde.

Wer sind die Zeugen Jehovas?

Rino Zumerle schlägt ein Restaurant für das Gespräch vor, zu Hause sei nicht aufgeräumt. Wir gehen dann doch in seine Dreizimmerwohnung – sie ist alles andere als unordentlich. Der 63-Jährige lebt allein in Biel. Pflanzen machen das Wohnzimmer gemütlich, eine Buddhafigur sitzt vor dem Fenster, die Wohnwand mit Büchern zeugt von Belesenheit.

Zumerle spricht überlegt, leise. Er fuchtelt nicht mit den Händen, seine Augen suchen stets den Kontakt zum Gesprächspartner. Man könnte versucht sein, ihn einem sozialen Beruf zuzuordnen. Ganz falsch: Zumerle ist seit 1978 IT-Angestellter.

Und der Buddha? «Er strahlt Gelassenheit aus. Aber ich bin Atheist», sagt er bestimmt. «Es gibt kein Leben nach dem Tod. Aber es gibt ein Leben davor, und was wir daraus machen, liegt an uns.» Eine klare Antwort auf eine grosse Frage. Das ist Rino Zumerle: Er sucht Antworten auf solche Fragen. Er interessiert sich für Übersinnliches, für Philosophie. Heute diskutiert er solche Themen im Vorstand des Café Philo Solothurn. Der Verein veranstaltet Diskussionen mit Denkern, dabei philosophiert der Vorstand auch selbst. Zumerle liebt das.

Eine Agenda voller «Zeugen»-Termine

Vor 30 Jahren fand er bei den Zeugen Jehovas Antworten auf seine Fragen. Seine Schwägerin war von zwei «Zeugen» angesprochen worden. Sie erzählte ihrer Schwester davon, die beiden trafen sich mit «Zeugen» zu Bibelgesprächen. «Meine Frau war damals mehr an Gott interessiert als ich», sagt Zumerle. Sie war protestantisch, er katholisch, beide gingen selten in die Kirche. Mit 24 heirateten sie kirchlich, ein Jahr später kam die erste Tochter zur Welt, zwei Jahre darauf die zweite. Zehn Jahre später folgte ein Sohn.

Für die Kinder hatten die «Zeugen» eine bebilderte Bibel dabei, das gefiel den Zumerles. Erst wollte Zumerle seine Frau vom Beitritt abhalten. Doch je mehr er sich mit der Gruppierung beschäftigte, umso mehr überzeugte ihn deren Glauben: «Werte wie Zusammenhalt, Familie oder Gemeinschaft sind ihnen wichtig. Das gefiel mir. Und der Glaube an ein Leben nach dem Tod.»

Aufgewachsen ist Zumerle in Grenchen. Er machte eine Lehre als Maschinenzeichner und bildete sich im Abendstudium zum Maschinenbauingenieur weiter. Schon während des Studiums interessierte er sich für Informatik und fand eine Stelle in der IT-Abteilung eines Uhrenherstellers. Bald bauten die Zumerles ein Haus in der Region. Sein liebstes Hobby war Schach. Als Teenie hatte er es bei den Solothurner Meisterschaften in die vorderen Ränge geschafft.

Schach lag nicht mehr drin, nachdem man den «Zeugen» beigetreten war. Am Dienstag traf man sich privat mit drei, vier Familien zum Bibelstudium. Am Donnerstag versammelte man sich, um Internes aus der Welt der «Zeugen» zu erfahren oder im Missionieren geschult zu werden. Und am Wochenende gab es Treffen für die Öffentlichkeit mit einem Vortrag zu einer Bibelstelle und Betrachtungen zu Artikeln aus der Zeitschrift «Wachtturm». Zudem gings auf Mission von Tür zu Tür. «Die wenigsten tun das gern. Man läuft Gefahr, auf Bekannte zu stossen oder angefeindet zu werden», erzählt Zumerle. Die Kinder waren bei all diesen Aktivitäten immer dabei. Rückblickend sagt er: «Wir steckten in einem Hamsterrad, merkten es aber nicht.»

Die Töchter treten als Erste aus

Nicht nur das Schachspielen hatte er aufgegeben. Alte Freunde waren nicht mehr wichtig, selbst seine Eltern und Geschwister traf Zumerle kaum mehr. Sein Leben spielte sich unter Zeugen Jehovas ab. Bald galt er als Vorbild, man wählte ihn zum Dienstamtgehilfen, dann zum Ältesten. Die «Zeugen» sind hierarchisch strukturiert. Mehrere Älteste leiten eine Versammlung. «Zum Ältesten wird, wer eine intakte Familie hat und als vernünftig, gerecht und eifrig angesehen wird», sagt Zumerle. Als Ältester vermittelte er den Glauben, lehrte, wie man missioniert, und half bei Problemen.

Anfang des Jahrtausends brauchte Zumerle selber Hilfe. Er war in eine Midlife-Crisis geraten und fragte sich: «Was habe ich im Leben erreicht?» Als Zeuge Jehovas verzichtete er auf vieles. Er begann, auch ausserhalb der «Zeugen» nach Antworten zu suchen. 2003 folgte die nächste Krise: Die jüngere Tochter verliess die «Zeugen». «Sie hat lange mit sich gerungen, uns aber nichts davon erzählt.» Zumerle hintersann sich: «Was bin ich für ein Vater, dass mir meine Tochter nichts von ihren Sorgen erzählt?»

Zurückhalten wollte er sie nicht. Kurz darauf trat auch die ältere Tochter aus. Sie hatte mit 18 geheiratet, früh ein Kind geboren, aber die Ehe hielt nicht. Mit der Beziehung starb ihr Glaube. Sie haderte etwa mit dem Gedanken, wie es möglich sei, dass Eltern Gott mehr lieben als ihre Kinder. Das schmerzte. Zumerle sah sich im Dilemma: Zeugen Jehovas sollten den Kontakt zu Ausgetretenen – auch zu engsten Familienmitgliedern – aufs Minimum beschränken. Dazu war er nicht bereit: «Ich sagte zu meinen Töchtern: ‹Ich werde euch nie verstossen.›» Rino Zumerle: «Die meisten Zeugen sind sich nicht bewusst, wie tief sie die Psyche derer verletzen, die sie isolieren.»

Sein Weltbild beginnt zu wanken

Zumerle sah sich nicht mehr in der Lage, der Gemeinschaft als Ältester zu dienen, und gab das Amt ab. Er brauchte Erklärungen für das Verhalten seiner Töchter. Über diese Zeit sagt er: «Erst verharrte ich wie betäubt in einer Starre, war ohne Lebensfreude. Dann wollte ich mich rechtfertigen und forschte in der Literatur der Zeugen Jehovas. Ich begann, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten. Mein Weltbild wankte.»

Bei seinen Nachforschungen stiess er auf Widersprüche in den Schriften. Ein Beispiel: Wie alle «Zeugen» glaubte Zumerle an die Auferstehung, daran, dass er zu den Auserwählten gehören würde, die den nahenden Weltuntergang überleben. Seine Kinder waren 2003 ausgetreten. Er fragte sich: «Wenn der Untergang 2002 stattgefunden hätte, wären meine Kinder gerettet. Fände er aber erst 2004 statt, sind sie dann verloren?» «Wir steckten in einem Hamsterrad, merkten es aber nicht.»

Rino Zumerle, ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas

Er begann, sich vermehrt für das «weltliche» Leben zu interessieren, nahm seltener an den Versammlungen teil, schwänzte den Missionsdienst. Stattdessen erklomm er mit dem Mountainbike die Berge des Jura und lernte, Billard zu spielen. Doch es dauerte bis 2010, ehe er seinen langen Austrittsbrief schrieb. Darin hinterfragte er etwa die Haltung der Wachtturm-Gesellschaft zu Organtransplantationen. Einmal hiess es, solche Eingriffe seien für Zeugen Jehovas verboten, dann wieder waren sie zugelassen. Für Zumerle ging das nicht auf: «Es kann doch nicht sein, dass acht Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen plötzlich ihren biblisch fundierten Glauben um 180 Grad ändern. Es war, als gäbe ich mein Hirn an der Tür zum Versammlungslokal ab.»

Ein Grund für Zumerles Zaudern war die Angst, verstossen zu werden: Strenggläubige «Zeugen» ignorieren Abtrünnige. Würden ihn die Grenchner «Zeugen», mit denen er 20 Jahre lang das Leben geteilt hatte, wirklich verstossen? Er hatte kaum mehr andere Freunde.

Vor allem beschäftigte Zumerle die Frage: Wie würde seine Frau reagieren? «Wir hatten es immer gut, es gab kaum heftigen Streit. Wir wollten zusammen alt werden.» Das änderte sich mit seinem Zweifeln. Die beiden stritten jetzt viel: «Ich war oft sehr impulsiv», sagt Zumerle. Wer den besonnenen Mann vor sich sieht, kann das kaum glauben. Seine Frau war für seine kritischen Gedanken nicht zugänglich. «Es gab keine vernünftigen Gespräche mehr – auch ich selber war nicht mehr kritikfähig.»

Heute geniesst er seine Freiheit

Seinen Austrittsbrief schloss Zumerle so: «Ich werde die Zeugen Jehovas als Menschen weiterhin respektieren. Dasselbe erbitte ich von euch.» Es half nichts. Er wurde gemieden. Einige Wochen später war ihm klar, dass er unmöglich weiter mit seiner Frau zusammenbleiben konnte. «Ich sagte ihr: ‹Wenn ich sehe, wie diese Leute mit dir geselligen Umgang pflegen, während sie mich nicht einmal grüssen, ist das für mich unerträglich.›»

Die Zumerles trennten sich. «Meine Frau war betroffen, fand aber, die Zeugen Jehovas seien ein Teil ihres Lebens, den sie nicht aufgeben wolle. Auch nicht mir zuliebe.» Zumerle zog aus, später verkauften die beiden ihr Haus und liessen sich scheiden. Dann entfremdete sich auch der Sohn von den Zeugen Jehovas und trat aus. Das war vor etwa fünf Jahren. Seither sieht Zumerle seine Frau kaum noch. Nach einer langen Krisenzeit geniesst er seine neue Freiheit, pflegt neue Freundschaften und holt vieles nach. Er reist, fliegt Gleitschirm, malt, formt Steinskulpturen. Und er spielt sogar wieder Schach.

Und warum erzählt er das alles öffentlich? «Mir geht es um Aufklärung. Ich finde es persönlich beleidigend, wie menschenverachtend und -unwürdig diese Gruppierung mit mir und anderen Andersdenkenden umgeht und uns sozial isoliert. Und das aus Liebe, wie sie sagt.»

Quelle: beobachter.ch