Zum ersten Mal seit dem aufsehenerregenden Prozess von Candace Conti gegen die Wachtturm-Bibel und Trakt-Gesellschaft von New Yorki im Jahr 2011, wird erneut eine Jury in einem Fall von sexuellem Kindesmissbrauch in den Reihen der Zeugen Jehovas eine Entscheidung treffen.

In diesem Fall geht es um den sexuellen Missbrauch eines 14-jährigen Mädchens. Verschiedene Älteste der Zeugen in zwei Bundesstaaten waren über diese Tat informiert, unterließen es jedoch, die zuständigen Behörden und die Polizei darüber in Kenntnis zu setzen.

Die Meldung unterblieb selbst nachdem die Angelegenheit der zuständigen Rechtsabteilung der Wachtturmgesellschaft gemeldet worden war.

Die Klägerin, Stephanie Fessler aus Lancaster Pennsylvania gibt an, dass Älteste aus den Versammlungen der Zeugen Jehovas Freeland, Maryland, und Spring Grove, Pennsylvania, es versäumten, Kontakt zu Strafverfolgungsbehörden aufzunehmen, nachdem ihnen bekannt geworden war, dass eine sexuelle Beziehung zwischen Frau Fessler, damals im Alter von 14-16 Jahren und der weiteren Beklagten, Frau Terry Jeanne Monheim, damals 49-51 Jahre alt, bestand.

Der Missbrauch begann 2003, wurde im Sommer 2004 entdeckt und als die Eltern von Stephanie auf den Missbrauch aufmerksam wurden, kontaktierten sie die Ältesten ihrer Versammlung.

Der Älteste Eric Hoffman initiierte eine interne Untersuchung der Anschuldigungen, zu der auch zwei weitere Älteste, Neal Cluck und John Ness, hinzugezogen wurden. Keiner der Ältesten schlug den Eltern vor, die Behörden zu kontaktieren. Sie selbst versäumten es ebenso den Vorfall zu melden. Statt Stephanie zu beschützen, bestraften sie sie, das Opfer, indem sie ihr gegenüber einen Verweis aussprachen.

Den Gerichtsdokumenten zufolge verhörten die Spring Grove-Ältesten zwar das Opfer Stephanie Fessler, unterließen es jedoch, die 49-jährigen Terry Seipp (Monheim) zu befragen und versuchten auch nicht, sich an die Polizei- oder Kinderschutzbehörden zu wenden.

Statt ihr Schutz zu gewähren, wurde Stephanie von ihren Ältesten mit einem Verweis, einer internen Disziplinierungsmaßnahme bei den Zeugen Jehovas, bestraft.

In einer schriftlichen Stellungnahme gab der Älteste Eric Hoffman zu, dass er von vermutetem Missbrauch wusste, aber dennoch nicht mit den zuständigen Behörden in Verbindung trat.

Die Ältesten der Freeland Maryland Versammlung wurden über die sexuellen Missbrauchsanklagen gegen ihr Mitglied, Terry Seipp (Monheim) informiert, aber ebenso wie die Spring Grove Ältesten unterließen auch sie es, sich an die Regierungsbehörden zu wenden. Auch sie beließen es bei einer Ermahnung gegenüber der Täterin.

Die Ältesten der Versammlung von Spring Grove setzten sich jedoch in Kontakt mit der Rechtsabteilung des Wachtturms in Patterson, New York, und berichteten das Vorkommnis.

Die Gerichtsakten deuten jedoch darauf hin, dass die Meldung eines mutmaßlichen Missbrauchs an die Behörden und die Polizei auch in diesem Stadium unterblieb, weswegen vermutlich gegen die gesetzliche Bestimmung des Pennsylvania’s Child Protective Services Laws (CPSL) verstoßen worden ist.

Als unmittelbare Folge dieses Vorgehens und dem Versäumnis, den gesetzlichen Vorschriften sowohl von Pennsylvania als auch von Maryland nachzukommen, musste die Klägerin ein weiteres Jahr des Missbrauchs ertragen, bis es dem Ehemann der Angeklagten gelang, die Beziehung seiner Frau zu dem Mädchen aufzudecken.

Er hatte einen privaten Ermittler mit Nachforschungen beauftragt, dem es gelang, einen fotografischen Beweis für die Beziehung zwischen Fessler, Alter damals 15, und Monheim, jetzt 50 Jahre alt, zu erbringen.

Den zuständigen Ältesten wurden die Beweise vorgelegt, aber diese weigerten sich weiterhin, die Polizei oder die Kinderschutzbehörden zu kontaktieren. Sie bestraften Stephanie erneut, dieses Mal mit einem öffentlichen Verweis, der der gesamten Versammlung zur Kenntnis gebracht worden ist.

 

Täter unter Strafverfolgung – das Opfer leidet weiter

Erst im Jahr 2011 wurde der Missbrauch von Stephanie Fessler, jetzt 22 Jahre alt, direkt der Polizei gemeldet, die Terry Seipp (Monheim) aufgrund mehrerer krimineller Verstöße verhaftete. Seipp bekannte sich schuldig und wurde zu einer Gefängnisstrafe und Bewährung verurteilt.

Unterdessen litt Fessler unter schweren posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD), die sich bei ihr in extremen Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Albträumen auswirkten, so dass eine professionelle Therapie erforderlich wurde.

Es ist offensichtlich, dass die Organisation der Zeugen Jehovas mit ihrem Vorgehen nicht nur gegen die Gesetze von Pennsylvania und Maryland verstoßen, sondern auch dem Opfer Stephanie zusätzlich geschadet hat, indem ihr angemessene Hilfe zur rechten Zeit durch Beratungsstellen versagt wurde.

Durch ihre private und öffentliche Zurechtweisung wurde ihr zusätzlicher Stress zugefügt, da sie mit dem Stigma fertig werden musste, von allen ihren Zeugenfreunden als „schlechter Umgang“ angesehen zu werden.

Stephanie wurde im Alter von 10 Jahren als Zeuge Jehovas getauft, eine Entscheidung, mit der sie sich dauerhaft mit der Zeugnisorganisation und ihren Ältesten verband, denen gegenüber sie damit rechenschaftspflichtig wurde.

Während Kinder außerhalb der Zeugengemeinschaft von praktischer Unterstützung, Zuspruch und Ermutigung profitieren können, wenn sie missbraucht werden, befindet sich ein getauftes Zeugenkind in einer Lage, in der es vor einer Gruppe von männlichen Ältesten dazu gezwungen wird, sein Trauma wieder und wieder durchzumachen, um manchmal anschließend sogar bestraft zu werden.

Stephanie sagt:

“Mir wurden sechs Jahre meiner Kindheit gestohlen. Ich habe nichts von Sex gewusst … von jemandem missbraucht und dafür noch bestraft zu werden, hat mich seelisch und emotional in einer Weise verletzt, die ich mit Worten nicht beschreiben kann.“

 

Das Gerichtsverfahren

Der primäre oder erste Angeklagte in diesem Fall ist die Wachtturm-Bibel- und Traktatgesellschaft von New York und daneben die CCJW (Christliche Kongregation des Zeugen Jehovas).

Fesslers Rechtsanwalt, Jeffrey P. Fritz von Soloff & Zervanos, P.C.,ii will der Jury gegenüber nachweisen, dass die Rechtsabteilung der Wachtturmbehörde es versäumt hat, die Ältesten, die in diesen Fall involviert waren, anzuweisen, den verbindlichen Gesetzen von Maryland und Pennsylvania für sexuellen Kindesmissbrauch nachzukommen.

Dieses Verhalten stehe im Gegensatz zu der eigenen schriftlichen und veröffentlichten Dokumentation des Wachtturms, die anerkennt, dass Kindesmissbrauch ein Verbrechen darstellt, und dass „kein Ältester jemanden kritisieren wird, der eine solche Angelegenheit den Behörden meldet.“ (Brief der WTG an die Ältesten vom15. Februar 2002)

Allerdings ist es so, dass die Ältesten im Einklang mit den widersprüchlichen rechtlichen Empfehlungen des Wachtturms nicht ausdrücklich angehalten sind, Angelegenheiten des Kindesmissbrauchs an die Justizbehörden zu melden. Dieser Schritt soll als letztes Mittel (nur) in den Staaten erfolgen, in denen die Pflichtberichterstattung strikt vorgeschrieben ist.

Der Wachtturm beruft ich auf die Anwendung von Klerusprivilegien wie dem Beichtgeheimnis, obwohl es auch Ausnahmen gibt, die es einem Angehörigen des Klerus (Ältesten) erlauben, Vorwürfe an die zuständigen Behörden zu melden.

Wie in vergangenen Artikeln schon berichtet wurde,iii verwenden Wachtturmanwälte häufig den Begriff „absolutes Recht“ bei der Beschreibung ihres Vorschlags an die Opfer, sich mit Missbrauchsanzeigen selbst auseinanderzusetzen.

Das ist eine Praxis, die darauf abzielt, lediglich den Anschein zu erwecken, dass man sich für Opferrechte engagiert, tatsächlich aber darauf bedacht ist, eigene Anstrengungen und Initiativen, etwas im Berichtsprozess unternehmen zu müssen, zu vermeiden.

Es ist diese Strategie, die letztendlich zu der Unterlassung von Anzeigen in Missbrauchsfällen geführt hat. Die meisten Opfer und ihre Familien sind so durch den Missbrauch traumatisiert, sie in aller Regel Abstand davon nehmen, sich an die zuständigen Behörden und die Polizei zu wenden.

Ein weiterer Grund, warum es nicht zu Meldungen kommt, liegt darin, dass die Ältesten die Zeugen Jehovas regelmäßig ermahnen, nichts zu tun, was „dem Namens Jehovas Unehre“ bereiten könnte. Eine Strategie und bekannte Zeugenpolitik, die in erster Linie den Ruf der Organisation schützen soll und nicht der Sorge für die Opfer dient.

Die Jury für das anstehende Gerichtsverfahren ist nunmehr ausgewählt worden und der Prozess wird am Dienstag, den 7. Februar im Rathaus in Philadelphia, Pennsylvania, beginnen.

JW Survey wird kontinuierlich über den Fortgang des Verfahrens bis zum Ergehen eines endgültigen Urteils berichten.

Quellen: nytimes.com / oloffandzervanos.com / jwsurvey.org