Er verteilte „Wachtürme“, studierte die Bibel, ging zu den Gottesdiensten – dann verließ Andreas Wendt die Zeugen Jehovas und sucht nun nach Gleichgesinnten. „Wer den Kopf zu weit rausstreckt, wird schneller platt gemacht.“ Andreas Wendt* schaut sich unruhig um. Seine Hände zittern. Es fällt ihm schwer, den Blick zu halten. Der Verfolgungswahn ist geblieben. Die Angst auch.

Das Erlebte liegt beinahe zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit. „Einer muss ja den Anfang machen“ sagt Andreas Wendt. Er ist ein Aussteiger der religiösen Sondergemeinschaft Zeugen Jehovas. „Ich habe viele Jahre gebraucht, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen“, sagt er. Die Erinnerungen schmerzen. „Wenn man der Gruppierung den Rücken zukehrt, heißt das nicht, dass man alles vergisst, was man jahrelang löffelweise eingeflößt bekam.“ Er war noch ein Kind, als er in den Sog der Gruppierung geriet. „Ich war naiv, hatte den Aussagen der Organisation nicht viel entgegen zu setzen.“ Er ging zwei- bis dreimal in der Woche zur sogenannten Zusammenkunft, dem Gottesdienst der Zeugen Jehovas. Er studierte die Bibel, klingelte mit der Zeitschrift „Wachturm“ in der Hand an Haustüren, versuchte Unbekannte zu bekehren. „Ich habe mich nicht wohl dabei gefühlt bei Fremden zu klingeln“, sagt er heute. „Das war nicht meins.“

Gezieltes Ansprechen von Trauernden

Laut den Zeugen Jehovas gibt es in Deutschland derzeit knapp 170 000 Verkünder, von denen mehr als 1800 in Mecklenburg-Vorpommern zu Hause sind. Bestätigt werden konnte diese Zahl vom Statistischen Landesamt allerdings nicht. Daten zur Zugehörigkeit zu Glaubensrichtungen würden demnach nicht erhoben. Die Glaubensgemeinschaft hält ihre Treffen in so genannten Königreichssaalgebäuden ab. Auch in MV gibt es 20 solcher Lokalitäten, unter anderem in Rostock, Schwerin, Güstrow und Stralsund.

Pastor Jörg Pegelow warnt davor, die Zeugen Jehovas als Sekte zu bezeichnen. „Nicht alles, was religiös ist, ist eine Sekte. Früher wurde durch den Begriff eine Gemeinschaft definiert, die sich von einer Weltreligion abgespalten hat. In der öffentlichen Diskussion ist daraus ein Bewertungsbegriff geworden. In Hinblick auf die Zeugen Jehovas benutzen wir daher den Begriff der christlichen Sondergemeinschaft“, erklärt der Leiter der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Nordkirche in Hamburg.

Sich als Religionsgemeinschaft organisieren zu dürfen, ergibt sich unter anderem aus dem Recht der Glaubensfreiheit, definiert in Artikel vier des Grundgesetzes. 2006 erhielt die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen in Deutschland zusätzlich die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, verliehen durch das Bundesverfassungsgericht. Vorangegangen war ein insgesamt 15 Jahre andauerndes Verfahren, in dem geprüft wurde, ob sich die Gemeinschaft rechtstreu verhalte. Mit dem Körperschaftsstatus stellt der Staat den Gemeinschaften besondere Rechte zur Verfügung, zum Beispiel die Rechtssetzungsgewalt, nach der eine Organisation die Befugnis erhält, eigene Rechtsvorschriften und Satzungen zu entwickeln und anzuwenden. Darüber hinaus geht der Status mit Steuervorteilen einher.

Momentan konzentrierten sich die Zeugen Jehovas bei ihrer Akquise verstärkt auf Migranten. „Sie gehen offenbar gezielt auf Flüchtlingsunterkünfte zu, haben sogar ein Merkblatt zur Bearbeitung von Asylheimen erarbeitet. Sie dürfen zwar nicht reingehen, aber davor jemanden anzusprechen, ist ihnen nicht verboten“, beschreibt Pegelow. Im Jahresabschlussbericht der Gemeinschaft heißt es: „Viele lernten eine neue Fremdsprache, um mit ihren ausländischen Nachbarn besser kommunizieren“ – und sich über Glaubensfragen austauschen zu können. Ihre Dokumente – Audio-, Video-, Printdateien – wurden inzwischen in mehr als 870 Sprachen übersetzt. „Jehovas Zeugen sind davon überzeugt, dass die biblische Botschaft für alle Menschen zugänglich sein muss“, so die Begründung seitens der Glaubensgemeinschaft. „Die größte Zahl ihrer Mitglieder gewinnen die Zeugen Jehovas durch familiäre Zusammenhänge. Meistens gehört die gesamte Familie der Gemeinschaft an“, erläutert Jörg Pegelow. „Aller Wahrscheinlichkeit ist die Erfolgsquote der Straßen- und Haustürtätigkeit sehr gering. Geschätzt wird ein Erfolg pro 50 Mitglieder pro Jahr.“ Eine weitere Methode sei laut Pegelow Briefe an Trauernde zu schreiben. „Sie gehen Zeitungsannoncen durch, suchen nach Todesanzeigen, sagen den Angehörigen, dass sie bei den Zeugen Jehovas neuen Mut für die Zukunft schöpfen können.“ Nach Einschätzung des Pastors sei die Gemeinschaft friedfertig. „Aber was die lebensbestimmenden Dimensionen in der Psyche eines Menschen auslösen können, ist eine andere Frage. “

Jahrzehnte im Schatten der Gesellschaft

Andreas Wendt verließ die Gemeinschaft Mitte der 90er-Jahre. „Ein erstes Umdenken setzte ein, als ich als Wehrdienstverweigerer in der DDR in Haft saß.“ 20 Monate hätten an ihm gezerrt wie zehn Jahre. Die Zweifel wurden stark. „Eigentlich sollte es mir doch gut gehen, doch mir ging es nicht gut. Die Zeugen Jehovas zeigen Bilder von einer schönen heilen Welt, doch die Realität ist eine andere. Sie gehen Konflikten aus dem Weg, leben in ihrem Paralleluniversum.“

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis blieb Andreas Wendt von Versammlungen fern. Er hinterfragte die Lehren, kritisierte sie. Seine Kinder und damalige Frau hielten an den Gesetzen der Gemeinschaft fest. „Sie sagte, ich hätte die Prüfung nicht bestanden, weil ich nicht die richtige Herzenseinstellung zum Glauben hatte.“ Nach der Scheidung brach der Kontakt zu seiner Familie vollständig ab. „Sie sagte, sie müsse die Kinder vor mir schützen.“ Auch von der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas wurde er verstoßen. „Wenn Mitglieder mich sahen, haben sie die Straßenseite gewechselt oder mich ignoriert.“

Die Entscheidung auszusteigen, habe sein Leben auf den Kopf gestellt. Dennoch ist Andreas Wendt kein Ungläubiger geworden. „Aber ich sage niemandem mehr, wie er die Bibel zu verstehen hat.“ Den Erfolg der Zeugen Jehovas sieht er in der Hoffnungslosigkeit der Menschen. „Viele suchen nach einem Sinn, nach Halt im Leben.“ Die Gemeinschaft glaubt an Harmagedon, an die Endzeit, die nur diejenigen überleben, die sich an die strengen Regeln der Gruppierung halten. „Anhand der Bibel formt sich die Lebenseinstellung. Man hat keinen Geburtstag und es wird auch nicht Weihnachten gefeiert. Sich damit in die Gesellschaft zu integrieren, ist nicht immer einfach.“ Andreas Wendt spricht aus Erfahrung. „Vieles von dem, was die anderen machen, ist Sünde. Sie verhalten sich unmoralisch. Und wer sich in Sünde begibt, verliert das ewige Leben“, erklärt er. Harmagedon habe er selbst schon vier Mal erlebt. „Die Zeugen Jehovas sagen, dies seien alles voreilige Verkündungen gewesen. Das wahre Ende wird noch kommen.“ An die Lehren zu glauben, sei naiv gewesen, sagt er mit dem nötigen Abstand. „Ich habe das teuer bezahlen müssen. Jahrzehntelang stand ich alleine da.“

Neuen Lebensmut fand er erst durch Selbsthilfegruppen. Nun will er ein eigenes Treffen ins Leben rufen, weitere Aussteiger aus ihrer Deckung locken. Am 6. Februar wird er ab 18 Uhr in der KISS-Beratungsstelle, Spieltordamm 9, in Schwerin auf Gleichgesinnte warten. „Es gibt ein Leben nach den Zeugen Jehovas und das ist gar nicht mal so schlecht. Um das zu realisieren, benötigt man manchmal nur einen kleinen Anstoß. Ich hoffe, dass jemand kommt. Wir sind der Club der Geächteten.“

*Name von der Redaktion geändert

Quelle: svz.de