Die jüngsten Terrorereignisse (München) machen vielen Menschen Angst. Sekten nutzen die Gunst der Stunde, um neue Mitglieder zu werben. Ist der Terror auch am Sommerkongress der Zeugen Jehovas Thema? Die az hat Augenschein genommen. In einer der grössten Hallen Europas, in welcher Stars wie Lady Gaga auftreten, warten auch jetzt Hunderte Menschen auf ihren Star. Sie sind aufgeregt. Bald wird er auf die Bühne stehen, auf den roten Teppich, und ins Mikrofon sprechen.

Doch es ist kein Rocksstar, auf den sie treffen werden. Es ist Jehova. Zumindest einer seiner Zeugen. Die Halle ist fast voll, voll von Menschen, wie wir alle es sind, nur ein bisschen eleganter, heute. Die Mädchen und Frauen tragen modische Röcke, die Männer Hemd und Krawatte. Sie begrüssen sich herzlich, lachen, umarmen sich. Es entsteht beim Zuschauen kurz der Eindruck, als gäbe es nichts Böses auf der Welt.

Der dreitägige Sommerkongress der Zeugen Jehovas steht dieses Jahr unter dem Titel «Bleibe Jehova gegenüber loyal». Er findet jedes Jahr statt, drei Tage lang, ein riesiger Event, über 8000 Zuschauer an einem Tag. Die Menschen, die die Sekte von aussen betrachten, stufen sie als gefährlich ein. Sie wird von Experten immer wieder kritisiert, weil sie etwa Familien auseinanderreisst, die Mitglieder mit Freunden brechen, isoliert werden.

Der Kontakt wird abgebrochen

Aktivist Lloyd Evans bezeichnet den heutigen Anlass in einer Medienmitteilung des Vereins Infosekta als «Worst Convention Ever», die schlimmste Zusammenkunft aller Zeiten. Weil es beim diesjährigen Kongress um eine Ausweitung der Ächtung auf nicht aktive Mitglieder geht.

Solche Inaktiven konnten bisher weiter Kontakt zu den Familien pflegen. Nun sollen sie aber neu, wenn sie einen «sündigen Lebensstil» pflegen, wie ausgeschlossene Mitglieder behandelt werden. Das heisst, der Kontakt wird abgebrochen. Ausschlussgründe können etwa Sex vor der Ehe, wiederholtes Rauchen oder Kritik an der Organisation sein.

Der Mann, der jetzt predigt, stellt sich auf die Bühne, auf den roten Teppich, der in der Mitte liegt. Der umgeben ist von gelben, weissen und roten Blumen. Um ihn herum kreisförmig stehend die rund 8000 Besucher.

Er spricht zu seinen Brüdern und Schwestern, wie die Mitglieder bei den Zeugen Jehovas genannt werden. Der Saal erhebt sich, die Gläubigen singen zu ihrem Gott und beten. Die Köpfe ehrfürchtig gesenkt.

Der Prediger bezieht sich immer wieder auf Bibeltexte. Jeder Zeuge Jehovas hat eine Bibel dabei und liest die Texte für sich mit – im Buch oder mithilfe einer App auf seinem iPad oder Handy. Die Leute vor Ort kennen den Ablauf. Wie könnten sie nicht. Denn an den Kongressen werden weltweit die gleichen Skripte vorgelesen und die gleichen Filme gezeigt.

Ereignisse wie das Attentat von Nizza, die politischen Unruhen in der Türkei oder auch die Axt-Attacke von Würzburg schockieren die Gesellschaft. Sie verunsichern die Menschen, lassen sie ratlos und zweifelnd zurück. Sind die politischen Unruhen und die gesellschaftlichen Ängste auch bei den Zeugen Jehovas, auch hier und heute ein Thema? Auf dem Programm steht nichts davon. Auch die Predigten beziehen sich immer wieder auf Jehova, ihren Schöpfer.

Darauf angesprochen, reagieren einige Menschen zögerlich, sagen, die Attentate machten sie betroffen. Doch sie sähen diese als Vorzeichen der Zukunft. Die aktuelle Lage ist im Weltbild der Zeugen Jehovas nichts Aussergewöhnliches. Die heutigen politischen Zustände deuten die Zeugen Jehovas als Vorphase, die in ihrem proklamiertem Endzeitkrieg – Harmagedon – gipfeln soll. Wer bei diesem Krieg nicht den Zeugen Jehovas angehört, stirbt einen qualvollen Tod, die anderen leben auf der Erde im Paradies weiter.

Situation spielt Sekte in die Hände

Obwohl Sekten wie die Zeugen Jehovas apolitische Sekten sind, nützen sie die aktuelle politische Situation aus, um neue Mitglieder zu gewinnen, sagt Sektenexperte Hugo Stamm.

Die gegenwärtige Situation spiele den Zeugen Jehovas in die Hände. Das Missionieren gehöre dabei zu ihren Hauptaufgaben. Die Krise ermögliche einen Anknüpfungspunkt. So würden die Zeugen Jehovas die Situation nutzen, gleich ins Gespräch zu kommen und die Sekte als Lösung anzubieten.

Es werden aber längst nicht mehr nur altertümliche Strategien zum Missionieren gebraucht: Auch Internet und Social Media als Missionierungswaffe werden bei Sekten immer wichtiger. Denn neue Mitglieder bringen indirekt auch neue finanzielle Ressourcen. «Die Sekten machen in Blogs mit Kommentaren auf sich aufmerksam oder sie beteiligen sich an Chats und knüpfen so Kontakte», sagt Stamm.

Weitere neue Strategien kennt auch Regina Spiess, Psychologin und Projektleiterin beim Verein Infosekta. Gemäss Spiess haben Zeugen Jehovas heute am ehesten Erfolg bei Migrantengruppen. «Diese Menschen erleben eine Entwurzelung und finden in Versammlungen der Zeugen Jehovas auch Kontakte zu Landsleuten.»

In den letzten Jahren habe darüber hinaus auch das mobile Missionieren an öffentlichen Plätzen zugenommen. Im Hallenstadion werden derweil Kurzfilme eingespielt. Propaganda-Videos, emotional, nahe am Menschen und seiner Unsicherheit. Der Mensch ist unsicher, er sucht Halt. Doch, bis er bekehrt ist, dauert es eine Weile: Gemäss einer US-Studie knapp 140 Tage.

Quelle: aargauerzeitung